Wahnbachtalsperre
by Sven Heuchert
Es ist dunkel, und wir stehen auf dem schmalen Vorsprung auf der Dammmauer.
Warst du wirklich noch nie hier?
Sie schüttelt den Kopf.
Ich nehme einen der Steine, der auf dem Boden liegt und lasse ihn fallen. Er schlägt ein paarmal gegen die Mauer, bevor er auf die Oberfläche trifft.
Gugung.
Sie kichert.
Ich nehme noch einen Stein, einen größeren, beuge mich etwas weiter über die Mauer und lasse ihn fallen.
Guguuuung.
Sie kichert wieder.
Man glaubt, man kann das Wasser sehen, die Bewegungen, doch da ist nichts außer der Dunkelheit.
Bist du oft hier, fragt sie.
Manchmal.
Hier ist sonst niemand.
Deswegen.
Sie kichert.
Du weißt, dass das verboten ist?
Was?
Hier zu sein.
Ja?
Ja.
Sie legt den Kopf zur Seite und schließt die Augen. Sie macht etwas mit ihrem Mund, vielleicht summt sie eine Melodie. Ich weiß es nicht.
Was machst du da?
Nichts, sagt sie.
Den nächsten Stein lasse ich nicht einfach nur fallen, ich hole aus, werfe ihn.
Es braucht ein paar Sekunden.
Gugung macht es in der Dunkelheit, es ist weit weg, nur ein kurzes Plumpsen.
Sie hat lange Wimpern, ihre Augen rund wie Knöpfe.
Größer, sagt sie.
Okay.
Der nächste Stein ist rund und schwer und feucht. Ich hole ihn aus dem Schacht zwischen Vorsprung und Dammmauer; als habe ihn jemand dort extra abgelegt.
Ich schließe meine Faust um den Stein, wiege ihn.
Es ist ein seltsames Gefühl, die Hand in der Dunkelheit auszustrecken.
Der Stein fällt, und während er fällt, nimmt sie meine Hand. Ihre Finger sind klein und kalt, und wir beide stehen einfach nur da und hören zu.
Guguuuung.
Diesmal kichert sie nicht.
Kommst du oft her?, fragt sie.
Das hast du mich grad eben schon gefragt …
Ja, sagt sie. Ich weiß.
Meistens komm ich allein her …
Sie lächelt. Sie hält immer noch meine Hand.
Warte, sage ich, und sie lässt los.
Ich klettere über die Mauer und suche in der Böschung nach einem richtigen Stein, einem Stein so groß wie der Kopf eines Kindes.
Wo warst du?, fragt sie, sie steht alleine in der Dunkelheit.
Ich halte ihr den Stein hin, sie nimmt ihn und sackt ein wenig zusammen, er ist schwer, viel schwerer als sie gedacht hat.
Ich höre, wie sie ausatmet und lege meine Hände auf ihre Hüften, ziehe sie an mich heran, ganz nah, meine Lippen sind schon auf ihrem Nacken. Die Haare duften bei jeder anders, bei jeder neu, die Haare machen mich verrückt.
Jetzt du, sag ich, und das ist der Augenblick.
Manche gehen nicht so weit, trauen sich nicht, und dann verliere ich das Interesse, sie werden mir egal, weil ich weiß, dass sie nichts Besonderes sind.
Doch sie beugt sich nach vorn und ich halte sie, ich halte sie und sie vertraut mir, denn sie weiß es, und ich weiß es auch: ich könnte sie auch loslassen, einfach loslassen, dann würde sie fallen wie einer dieser Steine, sie würde fallen und in der Dunkelheit und im Wasser verschwinden.