Trauergestecke

by Sven Heuchert

I9.03.1989 – 22.05.2005, das sind die Daten, es ist einer dieser ganz glatten Steine, tiefschwarz und so poliert, dass man sein eigenes Spiegelbild auf der Oberfläche erkennt. Ich mag diesen neuen Bereich; ruhig und gepflegt und jede Menge junger Menschen. Gab es da nicht einmal diesen Spruch von James Dean, ich erinnere mich nicht mehr … aber vielleicht war der Spruch auch gar nicht von James Dean, wen interessiert das schon?

Waren Sie ein Freund?
Ich höre ihre Stimme, doch tue so, als hätte ich nichts gehört. Sie steht jetzt hinter mir, und wenn sie einatmet, pfeift da etwas in ihrer Brust. Man kennt solche Leute ja, die gehen nicht, die gehen nie, bevor sie dich nicht ausgepresst haben, wenigstens ein kleines bisschen. Sie schmatzt, als sie den Mund aufmacht, um noch einmal zu fragen, aber ich komm ihr zuvor: Ja, sage ich, ein guter Freund.
Tragische Geschichte, sagt sie leise und tritt neben mich, sie ist klein, ich kann auf ihren Schädel sehen, die bläulichen Haare ihrer Oma-Frisur. Ich habe sie hier noch nie gesehen.
Ja, sehr, sage ich und schüttele den Kopf. Sehr tragisch.
Ich kenne die Geschichte, das wünscht man keinem.
Nein, nein, tut man nicht, wirklich nicht.
Sind Sie zusammen zur Schule gegangen? Oder woher kannten sie sich? Nur, wenn ich fragen darf?
Ja, ja natürlich. Wir sind zusammen zur Schule gegangen, das stimmt.
Ah, macht sie. Schule.
Ja, und Fußball, wir haben früher Fußball zusammen gespielt.
Sie runzelt die Stirn. Ja? Hat der Dirk Fußball gespielt, das wusste ich ja gar nicht.
Doch, doch, beim STV, klar, sicher. Im Tor, er war Torwart.
Die Familie hat aber doch oben in Seelscheid gewohnt, oder nicht?
Ja, ich mein schon, nein, Sie haben Recht, Seelscheid.
Sie schüttelt den Kopf. Hat der dann hier in Siegburg gespielt?
Ja, sage ich. Sein Vater war doch ein hohes Tier in dem Verein. War da früher selbst Spieler, ich mein, dass der sogar mal die erste Mannschaft trainiert hat.
Ja?
Ich denke schon, ja.
Er war doch Arzt, oder?
Kann sein, ist schon so lange her.
Doch doch, seine Praxis war unten an der Bahnhofstrasse, direkt neben der Zoohandlung.
Das kann sein, aber …
Naja, macht sie und winkt ab.
Aber die Mutter, sage ich, an die kann ich mich erinnern, sehr gut sogar … die hatte doch diese Boutique auf der Kaiserstraße.
So eine zierliche Blonde – ja!, jetzt, wo Sie das sagen!
Genau, immer ziemlich schick angezogen, sag ich und denk, vielleicht noch ein paar Worte über einen Bruder oder eine Schwester, das würde jetzt sehr gut passen, aber sie will sich schon abwenden. Und Sie?, frage ich schnell, und da dreht sie sich um, leckt sich mit der Zungenspitze über die Oberlippe und sagt: Ja, ja, ich wegen meinem Mann, also … seit letztem Jahr, es ging sehr schnell, sie legt die Hand unter ihre Brust und seufzt leise, Bauchspeicheldrüsenkrebs, eine Sache von ein paar Monaten, also …
Ja, sage ich. Ich verstehe, sehr schlimm, tragisch. Mein herzliches Beileid.
Nein, nein, sagt sie, schon gut, es geht. Es muss ja gehen. Aber danke Ihnen. Ich bin oft hier, ich versuche es jeden Tag, ich will es in Ordnung halten, frische Blumen, Kerzen, so habe ich das Gefühl, ich … tja, wie soll ich sagen?
Dass Sie sein Andenken bewahren?
Ja, sagt sie. Genau, genau das. Das werde ich mir merken.
Dass Sie sein Andenken in Ehren halten – besser, oder?
Besser, sagt sie. Viel besser!
Man tut, was man kann, sag ich, und sie grinst und starrt mich an, bis ich verstehe. Ich nicke und zeige auf die Gräber, die am Ende der Gasse neben einer Linde liegen: Mein Vater … Autounfall, ein paar Jahre her jetzt schon, ist unter einen Lastwagen gekommen, nicht selbst verschuldet!, der andere war zu schnell, draußen auf der Siegtalstraße, ist ja bekannt für schwere Unfälle, das Auto hat es in zwei Teile gerissen, er lag in der Mitte, zerquetscht, ja, das ist …
Grausam, sagt sie. Manchmal weiß man nicht …
Ja, sage ich. Ja, da haben Sie Recht. Manchmal, da …
Ich wünsche Ihnen jedenfalls noch viel Kraft.
Ja, danke, vielen Dank. Ihnen auch.

Sie lächelt, aber ich kenne diesen Blick, kalt und hart aus kleinen Augen. Ich schaue ihr nach, wie sie langsam um die Ecke biegt, hinter der Linde in einer anderen Gasse verschwindet, eine Plastiktüte von LIDL in der Hand.
Ich lese noch ein paar der Daten, die so fein säuberlich in die Steine eingraviert wurden, als seien sie tatsächlich von Bedeutung. Und meistens sind da auch gleich Bilder, ein Gefühl, eine Idee, die Summe eines Lebens ablesbar wie der Stromzähler. Es ist gar nicht schwer, sich das alles vorzustellen, wir sind nicht so einzigartig, wie wir immer glauben. Ich setze mich auf eine der Bänke und zünde mir eine Zigarette an. Auf manchen Gräbern brennen Kerzen, es sind immer die gleichen roten, die es überall zu kaufen gibt, auf einigen sind Heilige abgebildet, ich kenne keinen einzigen davon. Als es zu nieseln beginnt, stehe ich auf und gehe, und kurz vor dem Ausgang sehe ich sie noch einmal, wie sie vor einem der frischen Gräber hockt und Trauergestecke in ihre Tüte stopft.