Kies
by Sven Heuchert
Der Staub legte sich langsam über den Schotter.
Sie sahen dem Pritschenwagen hinterher.
Was wollte der?
Rheinkies. Holt der nächste Woche ab.
Wim nickte. Bestimmt für ne Einfahrt, oder?
Drickes leckte sich über die Oberlippe. Schottergarten, Teich, Gabione – mir scheißegal, solange der pünktlich zahlt. Na ja, auch n Bier?
Klar, gerne.
Drickes zeigte auf die Holzbank vor dem Lagergebäude. Setz dich.
Der Geruch von nassem Stein und warmem Diesel wehte von der Grube herüber.
Drickes schloss die Tür mit einem Fußtritt und setzte sich neben seinen Bruder.
Hier, sagte er und drückte ihm eine Flasche in die Hand.
Stella, nobel, nobel … und auch noch eiskalt.
Hab ich aus Liege mitgebracht. Ist übrigens die alte Kühlbox vom Vater.
War ne gute Idee, die auszugraben … ich kann dir noch paar extra Kühlelemente mitbringen, ich kenne wen aus der Ophthalmologie, die kriegen ihre ganzen Sachen ja gekühlt, hier Hornhauttransplantation und so.
Von wo?
Augen, sagte Wim.
Ich dachte, du bist der für die Lauschlappen?
Na ja, die sind direkt gegenüber, deswegen …
Sein Bruder lehnte sich zurück und drückte seinen Daumen auf die Flaschenöffnung. Also, jetzt sag mal, was machst du da eigentlich genau? Ich meine – genau – was tust du da?
Wim lachte. Nicht so einfach zu erklären.
Glaubst du, ich bin zu blöd dafür oder was?
Nein, nein … er winkte ab. Zur Zeit bin ich in der Diagnostik.
Aber was machst du da? Nimmst du irgendwem Blut ab oder untersuchst die irgendwie?
Ich mache gerade Gleichgewichtsprüfungen. Er trank einen Schluck und drehte die Flasche in seiner Hand hin und her. Wenn dir schwindelig wird, dann …
Und, ich meine, wie stelle ich mir das vor? Wenn dir schwindelig wird …
Das nennt man orientierende Gleichgewichtsprüfung.
Aha.
Gibt verschiedene Versuche, die man macht, keine Ahnung, Romberg, Unterberger, Zeigeversuch, das müsste ich dir erstmal alles genau erklären, hat ja jetzt keinen Sinn, oder? Einfach so, mal eben aus der Luft gegriffen, du weißt doch, was ich meine, oder?
Schwindel? Du testest, ob denen wirklich schwindelig ist, oder wie?
Im Grunde gehts ums Gleichgewichtsorgan, genau.
Na, wie dem auch sei …
Mach ich nicht für ewig.
Ist doch egal, wenns dich glücklich macht. Guck mal, Sand, Kies, Erde, den ganzen Rest, Garten und Landschaft, das mach ich schon ewig, und ich wollt auch nie mehr, ich bin glücklich mit dem, was ich hab.
Ja, sagte Wim. Ich verstehe das.
Ja?
Tue ich.
Warum wird einem schwindelig, kannst du das sagen, ich meine …
Da gibt es viele Gründe, schwer einzugrenzen.
Aber es gibt Gründe, oder nicht?
Tja, kann was an den Nerven sein oder eine Entzündung, was am Gleichgewichtsorgan, psychisch, Alkohol, Medikamente, das muss man im Einzelfall sehen, das ist hochindividuell.
Hochindividuell!
Ja, jeder Mensch ist ja verschieden.
Siehst du, sagte Drickes, aber Kies ist eben Kies. Eine Drainage ist eine Drainage, eine Einfahrt eine Einfahrt.
Kann man aber nicht vergleichen, weißt du auch.
Sicher weiß ich das. Ich sag ja nur. Hast du dein Bier schon leer?
Nee, ich hab noch, Hälfte erst.
Mensch, ich würd sagen, beeil dich, aber nachher wird dir noch schwindelig!
Sie lachten und sahen einem Kormoran hinterher, der über das Gelände flog.
Ganz schön warm für Mai, oder?
Ja, und soll noch wärmer werden. Wahnsinn, oder?
Mir soll’s Recht sein, ich hab die Schnauze voll von der Kälte und dem Regen, ist einfach nicht mein Wetter.
Ja, aber mit dem Wetter kannst du nichts machen, das kommt, wie es kommt, oder?
Hast Recht. Petrus macht, was er will.
Sag mal, du bist doch ein schlauer Kopf, sagte Drickes und stellte die leere Flasche auf den Boden neben der Bank.
Schlau, nee, ich weiß nicht.
Na ja, also ich würd schon sagen, du bist schlau. Deswegen hab ich mal ne Frage, und ich will, dass du sie mir ehrlich beantwortest, kannst du das, ja?, sie mir ehrlich beantworten?
Also, ich kann es zumindest versuchen.
Na dann. Drickes lächelte. Stell dir mal vor, jemand kommt zu dir, und sagt: Ich hab da was, was du hier in der Grube verschwinden lassen musst, ja? Und du musst es so verschwinden lassen, dass niemand es findet. Und er sagt dir, wir zahlen dir hundert Riesen, wenn du es tust.
Wim atmete aus. Hat dir das jemand angeboten, also, ich meine …
Nein, darum geht es doch gar nicht, es geht darum, was du machen würdest.
Was ich machen würde?
Rede ich kyrillisch oder was?
Das, ja, das kann ich so gar nicht beantworten. Was sollst du denn genau verschwinden lassen? Ich meine, das wäre doch das Wichtigste, oder nicht? Ist es was Illegales?
Illegal oder nicht, egal.
Reden wir hier also über das, was ich glaube, über was wir reden?
Über was reden wir denn hier?
Na, also verblödet bin ich nicht.
Das habe ich ja schon gesagt, deswegen frage ich dich.
Einen Toten. Eine Leiche.
Eine Leiche?
Ja, darüber reden wir hier doch, oder nicht?
Das hast du gesagt.
Aber darüber reden wir doch hier, über eine Leiche, dass du eine Leiche verschwinden lassen sollst?
Wir reden darüber, dass ich irgendetwas verschwinden lassen soll, von einer Leiche hat keiner was gesagt.
Gedacht, aber gedacht hat das jeder, oder?
Jeder? Du oder ich?
Man denkt das eben, so wie du es erzählst, das steckt da schon drin … ich würde das auch denken, wenn mich das jemand anders fragt, so ist es nicht, das sind halt so meine ersten Gedanken.
Und Gedanken sind ja frei, hab ich gehört.
Drick, sagte Wim. Jetzt hör auf, sag was Sache ist, so oder so.
So.
Nein, das meinte ich nicht.
Wo wir dabei sind, sagte Drickes und stand auf. Jetzt mal das Bier leer?
Wart noch einen Moment, jetzt. Wim reichte ihm die leere Flasche.
Drickes stellte die Flasche neben seine auf den Boden und öffnete die Kühltruhe.
Was hast du eigentlich in Liege gemacht?
Ne Ladung Kies ausgeliefert.
Kies, nach Liege? Komm, Drick, red keinen Blech.
Was Geschäftliches eben.
Geschäftlich?
Sag mal, hörst du schwer? Mach mal so n Test bei dir selbst, hier, wie heißt das?
Audiogramm.
Genau, Audiogramm.
Nee, ich höre gut, sehr gut sogar.
Ach ja?
Ja, allerdings.
Ist auch egal, geht ja ums Prinzip.
Ums Prinzip?
Genau.
Das klingt aber anders.
Ja, wie klingt das denn?
Als ob du dich in die Scheiße reitest.
Weil ich in Liege war?
Weil du vielleicht irgendeine Scheiße mit Leuten aus Liege vor hast.
Und was, wenn ich nur zum Bier kaufen in Liege war? Im Colruyt direkt hinter der Grenze.
Kriegst du doch alles bei PM in Spich, erzähl mir nix.
Nee, die haben vieles nicht da, weil keine Nachfrage, also …
Und das ist es jetzt? Bier?
Was würdest du tun, das ist die Frage.
Wim schüttelte den Kopf und nahm die Flasche Stella Artois in die Hand. Worüber reden wir hier eigentlich? Das will ich wissen. Ist das hier nur ein Spiel, oder willst du mich wirklich was fragen, nur durch die Blume.
Spielt das eine Rolle?
Das spielt eine verdammt große Rolle, würde ich sagen.
Aber warum?
Hör auf!
Du hast Leiche gesagt, nicht ich.
Ja, ich habe Leiche gesagt, weil –
Denk mal an die hundert Riesen. Denk einfach mal nur an die hundert Riesen.
Nein, Drick, nein. Ich kann nicht einfach nur an die hundert Riesen denken, bist du vollkommen irre? Was ist los mit dir?
Nichts ist los mit dir.
Du weißt schon, dir ist doch klar, worüber wir hier reden, oder?
Worüber reden wir denn?
Wim legte seinen Kopf in den Nacken. Du hast gesagt, lass uns mal wieder treffen, lass uns mal wieder ein Bier zusammen trinken, und jetzt sitzen wir hier und …
Und was?
Und diskutieren über eine Leiche.
Ich habe nichts von einer Leiche gesagt.
Nein, nicht über eine Leiche, wir diskutieren über das Verschwindenlassen einer Leiche!
Drickes öffnete die Flasche mit seinem Feuerzeug und holte eine Schachtel Zigarillos aus seiner Hemdtasche. Glaubst du, die würden hier was finden?
Was? Wer ist die? Und klar würden die was finden.
Unter all dem Kies?
Glaubst du eigentlich, die sind blöde? Das sind doch keine Amateure. Die wissen genau, wo und wie sie nach was suchen. Nullkommanix, haben die was gefunden. Spürhunde, Sonar, das geht so schnell, da kannst du gar nicht gucken.
Spürhunde können nach zwölf Stunden keine Fährte mehr aufnehmen, und in der Sommerhitze funktioniert bei denen auch nicht alles so zuverlässig …
Wim hob die Augenbraue. Hast du alles schon herausgefunden, schon recherchiert oder wie?
Nein, da hab ich irgendwann mal was in der Zeitung drüber gelesen.
In welcher Zeitung liest man denn sowas? Fachblatt für Kriminalistik?
Was weiß ich, das war, als der kleine Junge in Frankreich verschwunden ist, in dem Dorf da. Da haben sie die Knochen nach einem halben Jahr erst gefunden – und auch nur rein zufällig, von ner Frau, die da in der Gegend gewandert ist, die hat das Skelett gefunden, die Spürhunde haben gar nicht angeschlagen …
Woher …
Und du musst eins bedenken, unterbrach ihn Drickes. Niemand wüsste davon. Dass hier etwas versteckt ist. Niemand kennt den Ort, und wenn niemand davon weiß …
Wim schüttelte den Kopf.
Was?
Nichts.
Hundert Riesen.
Das klingt wie aus so nem schlechten Film …
Was für n schlechter Film?
Du weißt, welche ich meine … wo irgendein gieriger Typ versucht, das schnelle Geld zu machen und sich dann, sagen wir es mal so, verkalkuliert und total abstürzt.
Und weiter?
Wie, und weiter? Nichts weiter. Meistens gehen die dabei drauf, oder? Eigentlich immer.
Ja, weil die keinen Plan haben, daran liegt’s, weil die sich das vorher nicht richtig überlegt haben, weil die nervös werden und dann dumme Fehler machen.
Aber du würdest keinen dummen Fehler machen oder wie?
Nee, sagte Drickes. Nicht wenn es um hundert Riesen geht.
Nein, du machst natürlich keine Fehler, selbstverständlich nicht, du bist eiskalt, klar. Und dann, was ganz anderes, ich weiß ja nicht, aber lohnt sich das überhaupt? Sind hundert Riesen so viel Kohle?
Hattest du schon mal hundert Riesen auf dem Konto?
Nicht, dass ich wüsste.
Siehste.
Aber deswegen gleich was Illegales tun, ich meine, wie lange halten Hundert Riesen? Nicht lang, oder?
Geht doch gar nicht darum, wie lange das hält. Du musst das mal so sehen: Ich tue dafür ja nix. Ich mach mir selbst nicht die Hände schmutzig, ich muss kein schlechtes Gewissen haben, nichts. Das ist wie ne Dienstleistung im Grunde, das Gleiche wie ne Tonne Rheinkies ausliefern.
Nein, das is was anderes … da machste dich mitschuldig. Kannst nicht einfach eine Leiche in der Grube verschwinden lassen.
Nochmal: Ich hab nichts über eine Leiche gesagt, das hab ich nie.
Trotzdem würdest du dich mitschuldig machen.
Mitschuldig … Drickes lachte. Weiß doch keiner was von.
Außerdem … dir gehts doch gut. Glaubst du, die hundert Riesen würden dein Leben so viel besser machen.
Ich wüsste jedenfalls, was ich mit so viel Kohle anstelle.
Ja? Was denn?
Nicht, was du denkst.
Kannst es nicht anlegen, nicht auf die Bank bringen, dir nichts Großes dafür kaufen …
Und woher willst du eigentlich wissen, ob’s mir gut geht, sag mal?
Das sehe ich.
Ah ja?
Klar.
Woran siehst du das denn?
Ich kenn dich doch …
Wer sagt dir denn, dass ich nicht ne Haufen Miese auf dem Konto habe? Dass ich gezockt habe und jetzt ner Menge Schulden hinterherlaufe?
Du zockst nicht.
Woher weißt du das?
Weil ich dich noch nie zocken gesehen habe. Du bist doch geizig wie ein Schotte, du schmeißt ja noch nicht mal einen mickrigen Euro in irgendeinen von diesen beschissenen Automaten.
Das ist was anderes.
Was soll da anders sein?
Vergiss es …
Sie saßen schweigend nebeneinander und tranken das Bier.
Ich meine, wie laufen denn deine Geschäfte, fragte Wim nach einer Weile.
Nein, schon gut … Drickes winkte ab. Ich hab keine Schulden, mach dir mal keine Sorgen, läuft alles gut, läuft super.
Ist sicher auch nicht einfach …
Na, was ist schon einfach? Aber lass mal, der Alte hat das schon gut gemacht, wenn es was gab, wovon er Ahnung hatte, dann davon. Sind ja nur Stammkunden, die Leute kommen alle wieder, und die fragen immer noch nach dem Alten. Ist ja auch schon fast wieder fünf Jahre her.
Ja, stimmt, diesen Sommer sinds fünf Jahre. Er hielt die Flasche in beiden Händen und wartete. Dann fragte er: Und, fehlt er dir?
Ich weiß nicht … fehlen? Fehlt mir, wenn ich angeln geh, seine Geschichten, die waren immer gut.
Ach komm, doch nicht nur deswegen, oder?
Na ja, am Ende ist er schon ganz schön wunderlich geworden …
Krank, er war krank. Dann werden Menschen so.
Mag sein, aber davon hast du ja nicht so viel mitbekommen …
Ich dachte, das hätten wir geklärt?
Haben wir.
Das Gefühl hab ich aber nicht.
Bist keinem was schuldig, mir schon mal gar nicht.
Das weiß ich doch.
Na also. Du machst deins, ich mach meins.
Ja, schon richtig … aber manchmal denk ich …
Musst dich nicht rechtfertigen. Kann ja auch nicht jeder, das mit den Schwindeltest.
Arschloch …
Du weißt, wie ich das meine …
Wim stellte die Flasche auf den Boden vor sich.
Willste noch eins?
Ich glaub, ich hab schon einen in der Krone.
Ach was, bist nichts mehr gewöhnt.
Hör mal, was ich noch sagen wollte … tut mir ehrlich leid, dass ich damals nicht dagewesen bin, als das …
Ist gut, unterbrach ihn Drickes. Ist schon gut. Lass nicht wieder davon anfangen, das hat doch keinen Sinn. Ist, wie es ist. Zeit können wir nicht zurückdrehen, und wollen wir auch nicht. Der Alte hat immer gesagt: Kopf hoch und guck nach vorne. Und das machen wir jetzt auch. Und deswegen hol ich uns noch ein Bier.
Wim lachte. Weißt du noch, wie wir mit der alten 80er durch die Grube sind?
Klar weiß ich das noch. Die gibts sogar noch, die Maschine.
Was, echt?
Sicher.
Fährt die noch …
Die fährt noch, aber du fährst die garantiert nich mehr, jedenfalls heute nich mehr, sonst kann ich dich nachher noch irgendwo abkratzen.
Warum?
Drickes zeigte auf das Bier der Hand seines Bruders.
Ich mein, bist doch du, du drückst mir doch ein Bier nach dem anderen in die Hand!
Ja, von nix kütt nix …
Wim nickte und nahm einen Schluck. Na dann, Prost!
Sie sahen auf die Grube hinter der Einfahrt, sahen die Dämmerung kommen.
Für Hundert Riesen würd sich’s einfach nicht lohnen, sagte Wim dann. Das ist zu wenig. Zu viel Risiko. Wenn, dann einmal richtig absahnen. So viel Kohle, dass du nie wieder was machen musst. Und dann ab, in irgendein Land, was nicht ausliefert, keine Ahnung, Paraguay, Brasilien, so was.
Copacabana?
Scheint jedenfalls immer die Sonne, und‘s Leben kostet fast nichts. Was willste mehr?
Drickes lächelte. Man müsste es halt nur machen.
Ja, müsste man. Aber ich weiß nicht …
Ich auch nicht …
Vielleicht besser so.
Aber zutrauen würdest du’s mir schon, oder?
Der Abend kam. Die Nacht kam. Sie tranken das Bier. Sie würden am nächsten Morgen in ihr Leben zurückkehren und nichts wäre passiert.