Am Ende der Viehtrift

by Sven Heuchert

Er saß vor dem Fernseher, Sportschau. Eine Flasche Bier in der Hand. Er hatte die Füße auf den Tisch gelegt, hielt die Flasche mit beiden Händen, ein Kissen im Nacken.
Der Ton des Fernsehers war stumm gestellt. Seine Frau stand in der Küche vor dem Herd. Wenn er die Diele entlang blickte, konnte er ihren Körper hinterm Türrahmen erkennen, die gleichmäßigen Geräusche hören, die sie beim Umrühren machte, das klonk klonk des Löffels im Topf. Sie hatte die Haare zu einem Zopf gebunden und trug eine weite Bluse. Es war Samstag und sie erwarteten keine Gäste.
Also, da wird ja der Hund in der Pfanne verrückt, sagte seine Frau auf einmal. Ich glaub, da is jemand in unserem Garten!
Was?
Im Garten, da is jemand im Garten.
Ist grade Sportschau dran … Er sah das Wappen seines Vereins auf dem Bildschirm, das Derby, der Sieg.
Ja, aber … Mensch! Willst du da gar nix machen? Ich mein, ist ja auch irgendwie dein Garten, oder nicht?
Er hörte den Tonfall und sagte: Jaja, ich komm, ich guck ja schon. Er stand auf, ging durch die Diele in die Küche, in der die Luft feucht war und nach Kerbel roch.
Da, sagte sie und zeigte aus dem Fenster über der Spüle. Unter der Linde, siehste.
Ach was! Ja, tatsächlich, also …
Tja, ist schon so, wie ich gesagt hab. Sie hob die Augenbrauen.
Er nickte. Aber ich mein, was macht der denn da?
Was weiß ich? Der sitzt da.
Ja, das sehe ich auch! Und jetzt? Machen wir jetzt?
Sie biss sich auf die Unterlippe. Ja, also, da ruf ich doch die Polizei, was denkst du denn?
Nee, nee wart mal. Ich will die Grünen nicht hier haben, ganzen Aufriss nur wegen so ner Kleinigkeit. Und der sieht doch harmlos aus, ich red zuerst mal mit dem. Die Grünen können wir dann ja immer noch rufen.
Und was ist, wenn der auf dich losgeht? Wenn der nachher auf Drogen is oder so?
Warum sollte der auf mich losgehen? Guck dir den doch mal an, das isn Opa, n alter Mann. Nee, der macht nix.
Und wenn doch? Ihre Stimme kippte.
Ach! Jetzt wart doch erstmal ab.

Er öffnete die Schiebetür und trat auf die Terrasse. Der Grill, der Rattan-Sessel, ein Topf voller alter Blumenerde. Er ging über den kurz geschnittenen Rasen bis ans Ende des Grundstücks. Der Mann saß immer noch an die Linde gelehnt. Graues Haar, Bart, sein Hemd hing ihm aus der Hose, er trug keine Socken, ein paar Halbschuhe, das braune Oberleder zerkratzt und ausgebeult. Er blickte nicht auf, sah ihn nicht an, hielt die Augen geschlossen.
Suchen Sie was?
Nee, nee ich such nix.
Haben Sie sich vielleicht verlaufen?
Nee, nee auch nich.
Er nickte. Weil, Sie sitzen ja hier in meinem Garten … also, wie sind Sie denn eigentlich hier reingekommen?
Hier, er zeigte auf den Jägerzaun hinter dem Komposter.
Über den Zaun, einfach drüber …
Der Mann brummte wieder.
Und, ich meine, was wollen Sie denn jetzt genau hier?
Der Mann öffnete die Augen. Er sah an ihm vorbei und nickte in Richtung Haus. War mal meins, das da, da.
Das Haus? Ach, das Haus hat mal ihnen gehört?
Gehört, ja. Ich habs auch gebaut. War ja früher nichts. Wiese. Feld. Der Mann leckte sich mit der Zunge über die Lippen. Hier war ja früher nix.
Und jetzt wollten Sie mal gucken, ob noch alles steht?
Nee, weiß ich ja, dass da noch alles steht, bin ja nicht blind.
Aha. Ja, also, dann …
Ist so, sagt er. Ich hab mir immer geschworen, dass ich mich hier beerdigen lasse.
Hier?
Ja, genau, hier.
Aber, nee, das geht doch nicht. Er lachte. Sie können sich doch hier nicht einfach so beerdigen lassen!
Wieso? Wer will da was sagen?
Na, also, erstmal ist das immer noch mein Garten, und dann, die Behörden und so weiter, das ist doch gar nicht erlaubt, man kann sich ja nicht einfach beerdigen lassen, wo man will.
Ich scheiß auf die Behörden.
Ja, nee, das geht nicht, also …
Der Mann atmete aus. Isn schönes Haus.
Ja, ja isses. Isses wirklich. Er wartete ab. Der Mann rührte sich nicht. Also? Wie machen wir das jetzt? Sie können ja hier nich einfach so sitzenbleiben, das geht nicht, das ist Ihnen doch klar, oder? Oder nicht?
Jaja.
Ich will nicht die Polizei rufen müssen.
Nee. Müssense nich.
Na dann …
Ich geh gleich, ich geh ja schon. Der Mann atmete ein und richtete seinen Oberkörper auf. Rufen Sie mal nich die Polizei. Brauchense nich.
Ja, ich mein, wenn Sie jetzt gehen, dann … dann is ja alles in Butter.

Und, was wollte der? Seine Frau wartete im Schatten hinter der Schiebetür. Sie hielt ein Küchentuch in der Hand.
Er sah sie an und zuckte mit der Schulter. Was weiß ich?
Ja, aber der saß doch direkt da, im Garten, in unserem Garten! Haste den denn nich gefragt? So einen fragt man doch.
Sagt, hat das Haus hier gebaut … also damals.
Das Haus hier?
Ja, das hier, was jetzt unsres is.
Nie im Leben, da müsste der doch steinalt sein, oder?
Tja, kann man nicht sagen.
Na sicher kann man das. Guck mal, der Bau hier, der ist doch aus den 50ern. Wie alt soll der dann sein? Hundert?
Nee, keine Hundert. Aber der is schon alt, also so, was man sieht.
Was meinste damit: Was man sieht?
Der sieht jedenfalls nicht wie Zwanzig aus, das meine ich damit.
Und jetzt ist der hierhergekommen, um was? Um was zu tun?
Keine Ahnung.
Wie, keine Ahnung, du hast doch mit dem geredet. Kann sich doch nicht einfach so bei wildfremden Leuten in den Garten setzen? Wie is der überhaupt reingekommen?
Übern Zaun.
Was?
Ja.
Ist das nicht, hier, sag schon, Hausfriedensbruch?
Nee, das ist was anderes. Er schüttelte den Kopf.
Ich mein schon …
Lass den doch, der wollte sich nur noch mal das Haus angucken. Ich glaub, der stirbt bald.
Wie der stirbt?
Er nahm ihr das Küchentuch aus der Hand. Kennst das doch … machen doch viele, nochmal alles angucken, bevor sie dann den Löffel abgeben.
Ich weiß ja nicht …
Lass den mal. War schon in Ordnung so. Ist ja auch wieder gegangen, der ist weg. Also?

Er setzte sich wieder auf die Couch, nahm die Flasche Bier vom Beistelltisch, legte die Füße hoch. Werbung.
Essen ist fertig!, rief sie aus der Küche.
Kartoffelsuppe, oder?

Nach dem Essen kochte er sich eine Tasse Kaffee und zündete auf der Terrasse eine Zigarette an. Das Brennholz, das er vergangene Woche gemacht hatte, lag unter einer Plane neben dem Komposter. Dann fiel ihm ein, dass er vergessen hatte, im Baumarkt neuen Flüssigdünger zu kaufen. Sein Blick wanderte zur Linde, auf den Platz, wo der Mann gesessen hatte. Er schüttelte den Kopf. Es dämmerte bereits. Die Lichter in den Häusern hinter dem Garten glühten warm und gedämpft hinter zugezogenen Gardinen. Er ging die Treppe hinunter, die zum Garten führte, drehte sich nach ein paar Schritten auf dem kurz geschnittenen Rasen um. Das Haus hatte zwei Stockwerke, einen ausgebauten Dachboden und einen Carport. Im vergangenen Sommer hatte er die Fassade neu streichen und einen Boden aus afrikanischem Holz auf die Terrasse verlegen lassen. Sie lebten jetzt seit dreizehn Jahren hier. Sie hatten das Haus in einer Niedrigzinsphase zu einem guten Preis erworben und seitdem viel Arbeit und Geld hineingesteckt. Er blieb auf der Terrasse stehen, drückte die Zigarette in einem Blumentopf aus und blickte durch das große Fenster ins Wohnzimmer. Seine Frau lag auf der Couch, eine Wolldecke über den Beinen, eine Tasse Tee auf dem Schoß, und schaute ihre Sendung. Er lächelte. Er hatte das Haus zu einem Zuhause gemacht.

Später im Schlafzimmer lag er noch lange wach und dachte über den Mann nach, der nachmittags im Garten unter der Linde gesessen hatte. Er kannte den Ausdruck, den der Mann im Gesicht gehabt hatte, die klein gewordenen Augen, die eingefallenen Wangen und den offen stehenden, hängenden Mund. Es war die Gewissheit und Erwartung eines nahenden Todes. Sein Vater hatte den gleichen Ausdruck im Gesicht gehabt, kurz bevor er starb. Da war er schon müde gewesen, die Jahre hatten ihm die Kraft genommen, das Atmen war ihm schwergefallen. Er überlegte, ob der Mann die Wahrheit gesagt hatte. Er drehte sich auf die Seite, legte seiner leise schnarchenden Frau die Hand auf die Hüfte und schloss die Augen. Er spürte, wie seine Glieder warm und schwer wurden, und kurz bevor er einschlief, dachte er: Nein, ich glaube ihm, ich glaube ihm.

Mitten in der Nacht riss ihn ein Geräusch aus dem Schlaf. Er blieb unter der Decke liegen, starrte mit offenen Augen an die helle Zimmerdecke, lauschte, wartete. Es waren kurze, hackende Geräusche, rhythmisch und hart, fast mechanisch. Sein Puls beschleunigte sich, er spürte, wie sein Herz hinter dem Brustbein hämmerte. Er setzte sich auf die Bettkante, erhob sich langsam. Seine Knie zitterten. An der Tür drehte er sich noch einmal um, aber seine Frau schlief tief und fest. Vor der Treppe blieb er stehen, ließ seinen Augen Zeit, sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Die Fliesen der Stufen klebten an seinen nackten Sohlen, er hielt sich mit beiden Händen am Geländer fest, bis er unten in der Diele stand. Die mechanischen Geräusche waren im Untergeschoss lauter geworden, schienen aus der Nähe zu kommen, und dann begriff er. Er nahm die Maglite von der Kommode, ging weiter ins Wohnzimmer und zog mit der freien Hand die Schiebetür zur Terrasse auf.

Ich ruf die Polizei, sagte er und schaltete die Maglite an. Die Taschenlampe war groß und schwer in seiner Hand, der Lichtkegel erleuchtete den gesamten Garten taghell.
Der Mann senkte die Schippe und beschirmte die Augen.
Is ja gut.
Is ja gut, sagt der da. Was denken Sie sich eigentlich? Das is, das is doch Hausfriedensbruch, ich zeig Sie an, das geht ganz schnell. Ist ihnen eigentlich klar, was das für Konsequenzen haben kann? Sie können doch nicht einfach hier mitten in der Nacht… also, Moment, Moment mal, was machen Sie da überhaupt?
Der Mann trat einen Schritt zur Seite.
Das glaub ich ja nicht, das glaub ich ja jetzt nicht, da, da gräbt der hier ein Loch, in meinem Garten! Mitten in der Nacht!
Ich hab das doch gesagt …
Du bist ja vollkommen irre, bist du. Kannst doch nicht einfach hier anfangen rumzubuddeln, du Spinner! Du gehörst ganz woanders hin, Kaiser Karl Ring, ich ruf gleich deine Freunde mit der Zwangsjacke, die kommen dich holen, aber ganz schnell geht das!
Der Mann zuckte mit der Schulter. Und dann?
Wie, und dann?
Ich sterb hier, da, wo ich mein Haus gebaut hab …
Also, sag mal, bist du noch ganz dicht oder was … er atmete aus und senkte die Taschenlampe. Jetzt mal im Ernst. Ich hab ja für vieles Verständnis, wirklich, ich versteh vieles, aber das? Das is doch …
Soll ich denn sonst machen?
Hast du keine Familie? Oder jemanden, der sich um dich kümmert? Soll ich wen anrufen?
Ich hab nix mehr, sagte der Mann. Nur noch das, was ich anhab.
Ach komm, jetzt hör auf.
Nee, ist so.
Lass das, das da mit dem Buddeln, das bringt doch nix. Und leg die Schippe weg, ja? Leg die lieber weg, ich will nicht, dass nachher noch was passiert.
Passiert schon nix.
Ja, das kenn ich, passiert schon nix, und dann … Also komm, leg die Schippe weg. Ja? Leg die weg.
Der Mann nickte. Aber machs Licht aus, blendet.
Ja, erst weglegen. Leg erst die Schippe weg.
Gut, sagte der Mann und lehnte die Schippe gegen die Linde.
Wo haste die überhaupt her?
Licht aus.
Er dimmte das Licht und machte einen Schritt auf den Mann zu.
Vom Nachbarn.
Vom Nachbarn?
Gegenüber.
Also, du klaust ne Schippe, kommst hier rein mitten in der Nacht … Er schüttelte den Kopf. Das is doch …
Der Mann sah an ihm vorbei. Dach is ja ausgebaut …
Ich ruf die Polizei nicht, wenn du jetzt abhaust, okay? Jetzt. Und wenn du nicht mehr wiederkommst, sonst muss ich … du kannst doch nicht einfach bei irgendwelchen fremden Leuten aufs Grundstück, das ist ja Einbruch … und spielt auch keine Rolle, wegen dem Haus. Ich glaub dir ja, dass du das Haus gebaut hast und alles, aber … siehst du doch selbst ein, oder nicht? Dass das nicht geht. Dass du sowas nicht einfach machen kannst?
In der Wand vor der Küche hab ich damals ne Flasche eingemauert, sagte er und lächelte. Bier vom Josef Breuer, aber den kennste gar nicht mehr, oder?
Ist besser, wenn du jetzt gehst … sonst muss ich wirklich …
Nee, den kannste nicht kennen.
Er knipste die Maglite wieder an und leuchtete dem Mann mitten ins Gesicht. Jetzt, jetzt sofort, ich sags nicht nochmal.
Jaja, sagte er. Machs Licht aus, vertragen meine Augen nicht mehr.
Komm, geh vorne rum, geh hier ausm Gartentor. Geh raus. Er leuchtete ihm den Weg mit der Maglite. Hier, geh hier lang, komm.
Der Mann nickte und folgte dem ausgestreckten Arm. Vor dem Gartentor blieb er stehen, drehte sich noch einmal um, hob seine Hand und winkte.
Dann war er verschwunden.

Er wartete einen Moment, schaltete die Maglite aus und schloss das Gartentor hinter sich. Die Viehtrift lag vollkommen ruhig da, die Häuser still und dunkel, Autos parkten in Einfahrten, der Mond stand als schmale Sichel am Himmel. Er ging ein paar Schritte auf den Wald zu, aus dem der leicht modrige Geruch von nassem Laub herüber wehte. Die Äste der Bäume wogten langsam im Wind, das Rascheln der Blätter machte ihm eine Gänsehaut. Er atmete aus, ging zurück in der Mitte der Straße, blieb vor dem Haus stehen und schaltete die Taschenlampe wieder an, das Licht gleißend, er ließ den Kegel langsam über den Asphalt gleiten, suchte hinter Mülltonnen und Buchsbaumhecken, suchte weiter, zwischen den geparkten Autos, in Hauseingängen, doch da war niemand mehr.

Das Loch war nicht sehr tief, aber er konnte erkennen, was der Mann vorgehabt hatte. Die Abmessungen waren von ihm mit dem Spaten in die umliegende Erde gestochen worden, drei Schritte lang, ein Schritt breit. Er ging sie einmal ab, stellte sich dann in die flache Kuhle, berührte den Haufen Aushub mit dem Fuß, die weichen Klumpen zerfielen an seinen Zehenspitzen. Dann kniete er sich hin, schaltete die Taschenlampe aus und legte sie neben sich, die Erde unter ihm hart, fest und kalt. Er verharrte, auf dem Boden kauernd, das Gleichgewicht haltend, dann setzte er sich. Als er die Beine ausstreckte, spürte er die feuchten Grasbüschel an den Waden, und wie sich spitze Kieselsteine in die Haut seiner Oberschenkel drückten. Es fühlte sich vertraut an, der Himmel über ihm – der große Wagen, das einzige Sternbild, das er sicher erkannte – die Schatten, den die Baumkrone warf. Er lag da, die Hände auf dem Bauch gefaltet, und schloss die Augen. Vielleicht sollte sich das Sterben so anfühlen, dachte er, leicht und entspannt, wie das Einschlafen in einer warmen Sommernacht. Er blieb liegen, bis seine Glieder von der Kälte steif geworden waren.

Auf der Terrasse striff er sich noch die Erde von den Schenkeln, wischte sich Hände und Füße mit einem Tischtuch ab und schloss die Schiebetür hinter sich. Das Wohnzimmer kam ihm auf einmal klein und fremd vor. Er setzte sich auf die Couch, legte sich die Decke seiner Frau über die Beine, saß da, sah wie der Raum heller und heller wurde, hörte, wie die Vögel draußen zu singen begannen. Irgendwann stand er auf, ging weiter ins Badezimmer, zog sich aus, drehte das kalte Wasser auf, stellte sich unter den Strahl, seifte sich ein. Die Kälte nahm ihm fast die Luft zum Atmen, doch er hob das Kinn, öffnete den Mund und ließ ihn voll Wasser laufen, die dünnen, harten Strahlen auf seinem Körper. Danach trocknete er sich ab, rasierte sich sorgfältig, ließ sich Zeit dabei, benutzte eine neue Klinge, putze die Zähne, kämmte sich die nassen Haare nach hinten.

In der Küche setzte er Kaffeewasser auf und sah das erste Mal auf die Digitaluhr am Herd. 5:47. Er schaltete das Radio an, drehte die Musik leise und löffelte frisches Kaffeepulver in die Kanne. Es würde ein schöner Tag werden, der Himmel klar, die Luft frisch. Er dachte an die vergangene Nacht, an das Gefühl, in diesem noch nicht vollendeten Grab unter all dieser Erde zu liegen, diese Stille, diese Schwere. Man würde es nicht erfahren, nichts davon mitbekommen, denn man wäre schon tot, eine leblose Hülle, die langsam zerfiel, sich immer mehr auflöste, doch dieser Gedanke verfolgte ihn. Dann fragte er sich, wann und warum die Menschen begonnen haben, ihre Toten zu beerdigen, und das im wahrsten Sinne des Wortes, einen Leib in die Erde zu tun, einen Leib, der eben noch Fleisch und Blut und Leben gewesen war, wie kam man auf die Idee, ihn schlussendlich als seelenloses Überbleibsel einfach zu verscharren, sechs Fuß tief unter Sediment, Lehm und Gestein?

Was machst du denn schon hier?, fragte seine Frau.
Er drehte sich um. Sie stand in der Tür, den Bademantel halb geschlossen, die Haare offen, und gähnte.
Ich konnte nur nich schlafen, war irgendwie ne komische Nacht.
Ja? Tut mir leid, Schatz. Sie legte ihm eine Hand auf die Wange und gab ihm einen Kuss.
Was war denn los? War Vollmond oder so?
Nee, keine Ahnung, einfach nur so.
Aber sonst gehts dir gut, ja?
Ja, sagte er und nickte. Er legte seine Hand auf ihre Hüfte und zog sie an sich heran. Mir gehts super.
Okay, dann … ich geh mal duschen, ja?
Mach das, ich mach schon mal Frühstück.
Sie lächelte, ihre Hand strich an seiner Schulter herab.

Nach dem Frühstück sagte er: Ich fahr dich heute.
Musst du aber nicht, ist doch son tolles Wetter, willste da nicht lieber mit der Guzzi fahren?
Nee, heut nicht.
Was denn los? Hast doch die ganze Zeit auf Sonne gewartet, und jetzt …
Nur so, heut nicht.
Ja, wie du magst, ich freu mich.
Gehen wir vorne raus, ich hab doch in der Einfahrt geparkt.

Auf der Arbeit saß er an seinem Platz, las die Berichte über aktuelle Fertigungsabläufe, holte sich einen Kaffee nach dem anderen, konnte sich nicht konzentrieren.
Gegen Mittag schaute ein Kollege in seinem Büro vorbei. Hör mal, drüben bei der Qualitätskontrolle bräuchten die mal deine Hilfe, da ist was mit dem Material, zu spröde, was weiß ich …
Mir ist nicht gut, sagte er. Irgendwas mit dem Magen, keine Ahnung, ich glaub, ich fahr nach Hause.
Ach was, bist doch sonst nie krank?
Bin auch nicht krank, mir gehts nur nicht so gut. Will nicht krank werden und dann länger ausfallen, weißte?
Klar, ich sag denen Bescheid, ja? Gute Besserung.
Dank dir.

Auf dem Rückweg hielt er an einer Tankstelle, kaufte zwei Schokoriegel, eine Dose Red Bull und eine kleine Flasche Wodka. Er wusste nicht, warum. Er folgte einem Impuls, einem spontanen Begehren. Zuhause parkte er den Wagen in der Einfahrt vor dem Gartentor, setzte sich im Wohnzimmer auf die Couch, legte sich wieder die Decke seiner Frau über die Beine und aß die beiden Schokoriegel. Er aß sie hintereinander, kaute konzentriert, bis die Masse in seinem Mund zu einem süßen, klebrigen Brei geworden war. Dann stand er auf, griff sich die Dose Red Bull und den Wodka und ging auf die Terrasse.

Er ging über das Gras, setzte sich unter den Schatten der Linde und streckte die Beine aus. Er saß dort wie ein Kind, die Zeit dehnte sich endlos vor ihm aus, er hatte keine Pläne, es gab nichts zu tun. Die Dose zischte, als er sie öffnete. Er nahm einen kleinen Schluck, lehnte sich gegen den Stamm, zog die Knie an den Körper, die flache Kuhle vor sich, das mit Spatenstichen vorgezeichnete Grab, eine Skizze, eine Idee. Er stellte die Dose neben sich, öffnete den Wodka, ein leises Knacken, als er den Verschluss aufdrehte. Dann trank er, einen Schluck, zwei, war erstaunt von der Schärfe, die sich in seinem Mund ausbreitete, dem heißen Faden, der tief in seine Eingeweiden floss. Er nahm einen Schluck Red Bull, spülte nach, wartete, nahm noch einen. Es fühlte sich gut an, das Koffein und der Alkohol vermengten sich in seinem Körper, das Kribbeln hinter seinen Augen begann, der Puls pochte an seinen Schläfen. Er war bereit. Er stand auf, zog sich die Hose hoch und suchte den Spaten, den er auf dem Rasen neben der Linde fand.

Der erste Stich, die Erde dicht und widerstandsfähig. Er schüttelte den Kopf, wollte schon aufgeben, den Spaten hinschmeißen und sich auf die Couch legen, darauf warten, dass seine Frau nach Hause kam. Doch der zweite Stich war leichter, die Erde löste sich, die Schicht darunter lockerer, und nach dem dritten Stich erkannte er bereits die Ränder der Furche, an der er sich weiterhin orientieren würde, drei Schritte lang und ein Schritt breit. Er arbeitete weiter, trank den Wodka, spülte mit Red Bull nach.

Er zog sich das Hemd aus, legte es sorgfältig über einen Ast, arbeitete im Unterhemd weiter, seine Finger schwollen an und er konnte spüren, wie die Haut in den Handinnenflächen trocken und rissig wurde, aber es war ihm egal. Gegen Mittag machte er die erste Pause, trat einen Schritt zurück und besah sich sein Werk.

Fleißig?, fragte der Nachbar und legte seinen Arm auf den Jägerzaun, der die Grundstücke voneinander trennte.
Er nickte.
Was haste denn vor?
Ach, sagte er. Nur n paar Wurzeln loswerden, die stören. Meine Frau hat sich da mal fast hingelegt, deswegen …
Hast ja den gleichen Spaten wie ich, Mensch. Gutes Teil.
Hör mal, wo du das gerade sagst, ich denk, das is deiner …
Der Spaten?
Er nickte.
Und ich dachte schon, Mensch, wo is denn deiner eigentlich?
Weiß nicht, was da passiert ist, ich hab mir den einfach ausgeliehen, du warst nicht da, und ich dacht … ist sonst gar nicht meine Art.
Kein Problem, ist ja noch heile.
Hier, sagte er und hielt ihm den Stiel hin. Oder ich kauf dir ne neue.
Nee, musste nicht. Ist doch nichts dran.
Ich brauche ja sowieso eine, bin hier noch nicht fertig.
Hast aber schon ganz schön reingehauen! Musstest du nicht zur Arbeit heute?
Hatte mir extra frei genommen deswegen …
Na dann, halt ich dich mal nicht weiter auf.
Er reichte dem Nachbarn den Spaten mit dem Stil voran über den Zaun und wartete noch, bis der Nachbar den Spaten in seinem Gartenhaus verstaut und wieder im Haus verschwunden war, dann nahm er das Hemd vom Ast, zog es über, hob die Dose Red Bull und die leere Flasche Wodka auf und schob sie unter ein paar zerdrückte Milchkartons in der Mülltonne.

Im Baumarkt kaufte er einen Spaten, eine neue Schaufel mit großem Blatt und eine Hacke. Als er in der Schlange wartete, nahm er sich noch ein Maßband aus dem Regal vor den Kassen und ein Eis am Stiel aus der Kühltruhe. Er zahlte mit Karte, legte die Werkzeuge auf die Rückbank, das Maßband in die Mittelkonsole und aß das Eis hinter dem Steuer sitzend. Er ließ sich Zeit, ließ die Schokolade ein wenig schmelzen, biss dann ganze Stücke ab, lehnte sich im Fahrersitz zurück und spürte die Sehnen in Händen und Unterarmen, die von der Arbeit angeschwollen und straff waren. Im Auto war es ruhig, die Geräusche von außen gedämpft, das Schreien der Kinder, das Rollen der Transportwagen auf dem Asphalt, das Prötteln der angelassenen Motoren. Er leckte den Stiel ab, kaute auf dem Holz, bis es unter dem Druck seiner Zähne weich wurde. Dann startete er den Wagen. Er fuhr schnell, konnte es kaum abwarten, schnitt einem DHL-Lieferwagen die Vorfahrt ab und beschleunigte im Kreisverkehr auf der Kaiserstraße. Zuhause parkte er unter dem Carport, trug die Werkzeuge weiter in den Garten und zog sich das Hemd aus.

Da war eine Entschlossenheit, die er von sich selbst nicht kannte. Er legte das Maßband auf die Grasnarbe, nahm die Hacke, drehte den Stiel einmal herum, die glatte Oberfläche an seinen Händen, dann begann er, die Ränder zu bearbeiten, schlug richtige Kanten in die Erde, machte sie gerade und bündig. Es nahm Form an. Der neue Spaten schnitt selbst durch das feste, unberührte Wurzelwerk wie ein scharfes Messer. Er ging methodisch vor, das lag in seiner Natur. Sich eine Sache vor dem inneren Auge vorstellen, sich danach eine Methode zurecht legen, dieser folgen, sie vervollständigen, sie perfektionieren, ein gleitender Prozess, in Wandlung begriffen, den Notwendigkeiten folgend, das Ergebnis im Blick.

Ach, da bist du!
Er hörte ihre Stimme, hielt inne, den Spaten noch in der Hand.
Ja, sagte er. Ja, hier bin ich.
Sag mal, was machst du denn da?
Wurzelwerk, weißte? Dacht ich, kann mal weg.
Aha, na dann.
Na ja, das macht den Baum kaputt, also auf lange Sicht, und ich dachte …
Kommst du von der Arbeit?
Er stellte den Spaten an die Linde. Wie, wieso?
Trägst noch deine Klamotten … deswegen.
Ja, ja hast Recht. Ich dacht, ich machs sofort, wenn ichs nicht sofort mach, mach ichs nie, kennst mich doch.
Sie nickte. Ich hab noch Hunger, sagte sie. Ich mach mir was zum Essen. Willst du du auch was?
Ich glaub schon, ja. An was hast du denn gedacht?
Wir haben noch Forelle da, Sülze, oder ein paar Rühreier.
Ich nehm alles.
Wie? Alles drei?
Genau. Forelle, Sülze, Rührei.
Da haste ja richtig Hunger, wie?
Ja, na und?
Nix, na und.
Ich komm gleich, sagte er. Fang doch schon mal an, ja?
Ja, okay, ja gut.
Er nahm die Schaufel, glättete mit der Rückseite die Kanten und ließ sie dann auf den Grund gleiten. Tiefer, sagte er leise und zu sich selbst. Viel tiefer.

Sie hatte die Forelle auf zwei Teller aufgeteilt, Tomaten aufgeschnitten, ein Stück Sülze für jeden abgeschnitten und vermengte gerade Eier in einer Schüssel.
Wie viel sind das?
Was?
Eier.
Drei.
Nee, mach mal sechs.
Sechs?
Für mich, ja.
Sechs für dich allein?
Hab n Loch im Bauch. Schlimm?
Nee, nee, ich sag ja gar nix.

Nach dem Essen wusch er sich im Badezimmer ausgiebig die Hände, ließ kaltes Wasser über die Handgelenke fließen, trocknete sich ab. Seine Frau stand neben ihm vor dem Spiegel, schminkte sich ab, massierte sich Feuchtigkeitsgel unter die Augen, kämmte sich die Haare.
Ich will dich, sagte er.
Was?
Ich will dich …
Jetzt?
Ja, jetzt. Er legte ihr eine Hand auf die Schulter, trat hinter sie, strich ihr die offenen Haare zur Seite und küsste den Nacken.
Was ist denn los mit dir, sagte sie leise, richtete ihren Oberkörper auf und presste ihn gegen seinen.
Nichts, sagte er. Warum?
Du bist doch sonst nicht so …
Wie, so?
Na, so eben …
Er beobachtete sich dabei im Spiegel, starrte sich selbst in die Augen, bis sein Blick verschwamm. Dann fasste er seiner Frau in den Nacken, drückte ihren Kopf nach unten, ihr Gesicht in das Waschbecken, stieß härter zu, ihr Stöhnen wurde lauter, wurde ein Schreien, Lust, Schmerz, es war ihm egal, er stieß zu und wandte den Blick nicht ab von dem verzerrten Bild im Spiegel.

In dieser Nacht träumte er von dem Loch, das er angefangen hatte zu graben. Dass er auf dem Grund stand und nach oben blickte, das Blau des Himmels und die über einer schmalen, rechteckigen Aussparung hinwegziehenden Wolken, und es war kalt und feucht auf dem Grund und er war nackt, und er wusste, das war es, er würde dieses Loch niemals mehr verlassen.

Am nächsten Morgen stand er früher auf als seine Frau. Er ging in die Küche, setzte Kaffeewasser auf, vermengte acht Eier in einer Schale, gab sie in eine Pfanne mit Butter, würzte mit Paprikasalz und würfelte eine große Zwiebel, schnitt zwei daumendicke Scheiben Brot vom Laib und bestrich sie mit Leberpastete.
Du bist ja schon wach, sagte seine Frau.
Er nickte. Konnt nicht mehr schlafen.
Hast dir schon Frühstück gemacht?
Ist noch Kaffee da …
Was hast du dir da alles gemacht?
Paar Rühreier und zwei Brote …
Aber du isst doch sonst nicht so viel, oder?
Tja, Wachstumsphase.
Ja, nicht, dass du nachher noch krank bist, hier, Bandwurm oder so?
Ach was, woher soll ich den denn haben?
Was weiß ich, ich sag ja nur.
Nee, alles gut. Hab einfach nur Hunger. Schlimm?
Sie schüttelte den Kopf und goss sich eine Tasse Kaffee ein.
Ich kann dich heute wieder fahren, ist kein Problem.

Nachdem er sie zur Arbeit in die Stadt gefahren hatte, fuhr er zurück nach Hause und rief im Betrieb an. Ich fühl mich immer noch nicht besser, sagte er zu seinem Kollegen. Ich bleib heut noch zuhause. Wenns gar nicht mehr geht, geh ich zum Arzt, ok?

Bis mittags war das Loch so tief, dass er gerade noch über den Rand schauen konnte. Er sprang hoch, hielt sich an Grasbüscheln fest, stemmte sich mit den Füßen in die Erde, benötigte seine ganze Kraft, um endgültig herauszuklettern. Spaten und Schaufel ließ er auf dem Grund. Im Haus wechselte er das Hemd, nahm dann sein Portemonnaie und kaufte beim Metzger im EDEKA ein Kilo Rinderhüfte. Er briet es am Stück, aß es blutig und würzte nur mit Salz und einer Prise Pfeffer. Nach dem Essen suchte er die alte Haushaltsleiter im Keller und nahm noch zwei große Baueimer mit. Die Leiter stellte er an die schmale Stirnseite des Lochs, schmiss die beiden Eimer hinein und stieg wieder hinab.

Die Erde wurde dichter, härter, er musste sie mit der Hacke zuerst auflockern, bevor er sie abtragen konnte. Er befüllte zuerst die Eimer, trug sie anschließend nacheinander die Leiter hoch, kippte den Aushub neben den Komposter. Nach der vierten oder fünfte Fuhre stand sein Nachbar auf der anderen Seite des Zauns.
Bist ja immer noch dran, Mensch! Er lachte. Was denn da los? Bauste dir nachher noch einen Bunker, wie?
Nee, nee, keinen Bunker. Aber das muss mindestens zwei zwanzig tief, ich will aber drei Meter, weils ja auch für meine Frau sein soll, weißte? Ich hab mich genau erkundigt.
Der Nachbar nickte. Und was genau soll das werden?
Du, ich muss weiter, wird ja gleich dunkel.
Klar, sagte der Nachbar. Mach mal.

Er verschwand wieder im Loch, zertrennte mit der Spatenspitze Wurzeln, dick wie Kinderarme, füllte die Eimer, schleppte sie die Leiter hoch, entleerte sie neben dem Komposter.
Da unten bist du, sagte sie.
Er richtete sich auf, hielt den Spaten mit einer Hand am Stiel fest und blickte nach oben. Der Himmel, die Wolken, das Gesicht seiner Frau, ihr Körper klein und weit weg.
Ja, bin noch was dran.
Meinste nicht, das reicht jetzt langsam mal?
Nee, muss noch.
Ja? Ich mein, wofür willst du –
Ich hab mich genau erkundigt, unterbrach er sie. Zwei zwanzig mal zwei und mindestens drei Meter tief.
Und dann?
Dann ists geschafft.
Okay, sagte sie. Ich geh mal rein, ja?
Ist gut, mach das. Und, hier, da sind noch Straußensteaks in der Kühltruhe … kannst du mir die rauslegen?
Willst du die heute noch essen?
Tau ich in der Mikrowelle auf. Denkst du nur dran, die rauszulegen, ja?
Bist du –
Leg sie einfach raus, ja?
Ja, sagte sie. Ja, mach ich.

Als sie gegangen war, legte er den Spaten auf die Erde und richtete sich auf. Die Leiter reichte mit der ersten Sprosse jetzt genau an den Rand des Lochs. Da war der Geruch der kühlen Erde, feucht, modrig, es erinnerte ihn an Schimmel. Und es war still hier unten, keine Stimmen, nichts, auch kein Licht, keine Ablenkung, nur eine Schwärze, die das Loch weiter und weiter auszufüllen begann. Einen Tag noch, dachte er, dann ist es fertig.

In der Küche lagen die verpackten Straußensteaks in der Spüle. Er riss die Verpackung auf, nahm die einzelnen Fleischstücke aus der Folie, legte sie auf einen Teller und stellte ihn in die Mikrowelle. Er programmierte 200 Watt und zwanzig Minuten und ging ins Wohnzimmer. Das Zimmer war dunkel, der Fernseher ausgeschaltet. Er schaltete das Licht an, wieder aus, blickte aus dem großen Fenster vor der Terrasse auf die Linde, dunkel und mächtig in der Dämmerung.

Seine Frau lag schon im Bett, die Nachttischlampe eingeschaltet, ihr Mobiltelefon in der Hand. Er blieb vor der Tür stehen und nickte ihr zu.
Deine Sendung läuft doch, oder?
Hab keine Lust heute.
Keine Lust, wiederholte er.
Weiß auch nicht.
Langer Tag?
Sie seufzte. Hör mal, ich weiß nicht, aber … was ist eigentlich los mit dir?
Was soll mit mir los sein?
Du bist die letzten Tage so, ja, keine Ahnung, so … anders.
Gestern hats dir doch noch gefallen, oder nicht?
Ja, aber …
Was aber?
Nichts, schon gut.
Nein, sag.
Ich hab gesagt, schon gut. Ich will nicht streiten, wirklich nicht, okay?
Er setzte sich auf die Bettkante. In unserer Küchenwand ist eine Flasche Bier eingemauert. Das war wohl früher Brauch so.
Was?
Ja, das hat mir dieser Typ erzählt, vorgestern, weißt doch, der Irre, der unter der Linde gesessen hat.
Sie richtete sich auf, schob sich ein Kissen in den Rücken. Wen meinst du? Von welchem Typen redest du?
Du weißt doch genau, von wem ich rede, ganz genau weißt du das, du hast ihn doch zuerst gesehen …
Wen?
Verarsch mich nicht. Hör auf, mich zu verarschen.
Nein, nein, wirklich, ich …
Da unter der Linde hat der gesessen, und du, du hast doch gesagt, guck mal, da sitzt einer unter der Linde, wolltest sogar die Polizei rufen. Jetzt hör auf!
Er nahm ihren Blick in auf, ungläubig, erstaunt, verängstigt, spürte sein linkes Augenlid zucken und dann ging alles ganz schnell. Er packte sie am Hals, presste ihre Kehle zusammen, zog sie aus dem Bett auf den Fußboden, ihr Körper leichter, als er es vermutet hätte, ein Gesicht nah an ihrem, er konnte ihren Atem riechen, schmecken.
Sie versuchte, sich aus dem Griff zu lösen, aber er drückte sie auf den Boden.
Lass los, schrie sie, lass los.
Er presste ihr die Hand auf den Mund, brachte sie zum Schweigen.
Ja klar, es kann gar nicht anders sein, es kann ja gar nicht anders sein, du hast ihn doch zuerst gesehen … also, warum lügst du mich an, verdammte Scheiße, warum lügst du mich an?
Sie wurde ruhig, wehrte sich nicht mehr, lag ganz still da, und er nahm schließlich die Hand von ihrem Mund.
Ja, ja du hast Recht, ich hab ihn gesehen, ich hab den gesehen, unter der Linde, ja, du hast Recht, ich, ich weiß nicht, was mit mir los ist, du hast ja Recht, klar, natürlich, ich hab ihn auch gesehen.
Er nickte. Der Mann hat das Haus hier gebaut, sagte er und setzte sich neben sie. Weißt du, was das bedeutet? Der will hier sterben, der will sich hier beerdigen lassen, hier! Er lachte. Das musst du dir mal vorstellen.
Ja, sagte sie leise. Ja.
Er legte seinen Zeigefinger auf ihr Brustbein, schob den Stoff ihres Unterhemdes nach unten.
Sie schüttelte den Kopf. Nicht …bitte.
Er grinste. Nein, sagte er. Schon gut.
Er stand auf und zog den Stecker der Nachttischlampe aus der Dose.
Sie lag immer noch auf dem Schlafzimmerboden, ihre Haut so hell, dass er ihre Umrisse in der Dunkelheit erkennen konnte, den Schemen ihres Körpers.
Warte, sagte er. Komm her. Er sah ihre feuchten Augen schimmern, als er das Kabel um ihre Hände legte und zuzog.
Nein, schrie sie, lass das! Lass!
Wehr dich nicht, sagte er und presste ihr wieder die Hand auf den Mund. Wird ja alles gut, wirst sehen, wirst schon sehen.
Ihre Nasenflügel hoben und senkten sich, ihr Atem strich knapp und stoßweise über seinen Handrücken hinweg. Mit seiner freien Hand griff er nach dem Kopfkissen, schüttelte den Bezug ab und stopfte ihn in ihren Mund. Sie würgte, rang nach Atem, versuchte sich auf die Seite zu werfen, doch er hielt sie weiter fest, drückte sie zurück auf den Boden, zog sich den Gürtel von der Hose und fixierte die Schnalle zwischen ihren Fesseln, verknotete die Enden so fest, dass sie sich nicht mehr lösen konnten. Dann erklang der Signalton der Mikrowelle.

Er ließ sie gefesselt und geknebelt auf dem Boden liegen, ging in die Küche, nahm den Teller aus der Mikrowelle und stellte ihn auf den Tisch. Das Fleisch schwamm in einer gelblichen Flüssigkeit, sah grau und geschrumpft aus. Er drückte mit dem Daumen auf die Oberfläche, die leicht nachgab und zuckte mit der Schulter. Er nahm eines der Stücke in die Hand, steckte es sich in den Mund, begann zu kauen. Der Kern war noch roh, eiskalt, aber es machte ihm nicht aus, er kaute, schluckte, verschlang Stück um Stück, kaute, schluckte, bis nichts mehr übrig war. Dann stand er auf, stieg aus der Hose, zog sich Hemd und Schuhe aus und ging barfuß über die Terrasse in den Garten.

Es war Nacht, der Himmel vom silbernen Mondlicht erhellt. Er spürte den Willen in seinem Leib, etwas zu vollbringen, etwas zu Ende zu bringen. Er sprang in das Loch, kniete sich auf den Grund, legte die Hände flach auf die Erde. Nicht mehr viel, dachte er und nahm den Spaten, lockerte die Erde, schmiss sie mit der Schippe aus dem Loch, seine Bewegungen entschlossen, kraftvoll. Es war sein Werk, und es war das Richtige.

Im Morgengrauen hörte er, wie sein Nachbar das elektrische Garagentor öffnete und den Wagen anließ, das Tuckern des Diesels ein fremder Klang in seinen Ohren. Hier unten war alles weit weg, es berührte ihn nicht, erinnerte ihn an nichts. Hier unten fühlte er sich ganz und vollkommen. Er wusste, er musste es jetzt zu Ende bringen. Er nahm die Hacke, legte sie sich über die Schulter und stieg die Leiter hoch.

Das Gras unter seinen Füßen war noch feucht vom Tau, der Himmel diesig, es roch nach Regen. Die Schiebetür stand offen. Er blieb einen Moment auf der Terrasse stehen, atmete durch, trat in das dunkle Wohnzimmer. Das Zimmer war vollkommen leer. Keine Couch mehr, keinen Fernseher, keine Kommode mit gerahmten Urlaubsfotos. Sein Atmen klang in dem großen Raum nach, seine Schritte dumpf auf dem nackten Beton. Er drehte die Hacke um, ließ die Spitze absinken, ging langsam die Treppe hinauf.

Er blieb im Gang vor dem Schlafzimmer stehen und blickte in den Raum. Regen schlug gegen die Scheiben, er konnte die Tropfen sehen, aber nicht hören. Die Vorhänge an den Fenstern waren verschwunden. Das Bett war verschwunden. Der Schrank war verschwunden. Die Nachttischlampe war verschwunden. Sie war verschwunden. Er ließ die Hacke zu Boden sinken und betrat den Raum, der nur aus Wänden und Boden bestand. Er drehte sich um, berührte die Wände, nichts änderte sich, der Raum blieb leer. Dann trat er an das Fenster, blickte hinaus, die Linde war immer noch da, das tiefe Loch, die letzten vertrauten Bilder. Er wollte das Fenster öffnen, doch es gab keinen Griff. Er lehnte sich mit der Stirn an die Scheibe, spürte einen Schauer auf seiner Kopfhaut, der weiter und tiefer in seinen Körper einzog, als würde ein eiskalter Strom ihn durchdringen. Er trat einen Schritt zurück, suchte nach seinem Spiegelbild in der Scheibe. Auf der glatten Oberfläche fand er nur eine schwache, konturlose Verzerrung, als sei er ein Artefakt, ein Fehler.

Er schloss die Augen und hoffte, dass wenn er sie wieder öffnete, alles so war wie vorher, dass alles an seinem gewohnten Platz stand, dass es sich danach so anfühlte wie sein altes Leben, das Leben, bevor er begonnen hatte, das Loch zu graben. Er hatte keine Erinnerung an eine Entscheidung, an Gründe, an ein Bewußtsein, warum er tat, was er tat. Und als er die Augen wieder öffnete, stand er vor der Küchenwand und hielt die Hacke in beiden Händen. Auf seiner Haut haftete feuchte Erde, Farn, Grashalme, Steine, die Adern an seinen Unterarmen traten blauschwarz hervor.

Er starrte auf die Wand, eine große, weiße Fläche, so kahl und nackt wie er selbst. Er atmete ein, ein Tropfen Schweiß fiel ihm aus dem Haar auf den Boden, er spürte nagenden Hunger, ein Raunen aus den Eingeweiden. Er ahnte, sein Weg wäre bald gegangen, ein Ende in Sicht. Er holte aus, schlug zu, der Putz zerbarst, der Backstein, der darunter lag, splitterte, roter Staub schwebte wie feinster Puderzucker durch die Luft. Er wusste, was er tun hatte, was er suchte und finden musste. Er arbeitete fiebrig, mit letzter Kraft; das Ausholen, das Gewicht der Hacke, die schwungvolle Bewegung, der Moment, in dem die Spitze auftrifft, der Widerstand, den er bis in seinen Kiefer spürte, schlussendlich das Nachgeben des Materials, die Zerstörung, die Auflösung. Die Spitze der Hacke drang durch die letzte Schicht Putz im Winkel unter dem Sturz, ein großes Stück Mauer löste sich und gab den Blick auf verstaubtes Grünglas frei. Er ließ die Hacke fallen und nahm die Flasche aus dem Hohlraum. In das Glas war ein Emblem eingestanzt: Josef Breuer Biere, Siegburg.

Er hielt die Flasche in beiden Händen und trug sie hinaus auf die Terrasse. Über dem Hinterhof stand dichter Nebel, der den Dingen die Konturen nahm, sie zu Schatten und Ahnungen werden ließ. Die Linde eine mächtige, dunkle Erscheinung im trüben Dunst. Er blieb vor dem Loch stehen, die Erde gab leicht nach, und er konnte den Abgrund spüren, die tiefe, schwarze Leere. Bevor er hineinsprang, warf er noch die Leiter über den Jägerzaun auf das Grundstück des Nachbarn.

Er fiel, und Dunkelheit umfing ihn, und es war dasselbe Gefühl wie damals in seiner Kindheit, als er träumte, er falle und falle und der Fall nahm kein Ende, es war, als würde der Fall ewig andauern, als wäre das Fallen die Essenz seines ganzen Daseins. Dann war er nachts mit pochendem Herzen und stockendem Atem in seinem Bett aufgewacht und das Gefühl klang noch in seinem kleinen Körper nach, das Gefühl des ewigen Fallens. Man wird allein geboren und man stirbt allein, und während er fiel schmeckte er schon die Erde in seinem Mund, spürte sie auf den Augenlidern, auf der nackten Haut, Schicht um Schicht, schwerer und schwerer.