Sven Heuchert

Kohlsuppenrealist

Nach der Stille im Maisfeld

Winfried Schell saß auf der Gartenmauer hinter dem Haus, die Beine im Gras ausgestreckt, in der Hand eine Tasse Kaffee. Auf dem Boden vor ihm lag die Motorsäge, die er am vergangenen Wochenende gekauft hatte. Über dem Schwert befand sich noch der Kettenschutz aus ölig glänzendem PVC. Er trank einen letzten Schluck aus der Tasse und stellte sie auf der Mauer ab. Der Verkäufer hatte ihm zum größeren, leistungsstärkeren Modell mit mehr PS geraten. Winfried nahm die Säge, hielt sie fest am Griff und zog am Anwerfseil – einmal, zweimal, danach sprang der Motor an.
Ein bereits gespaltenes Stück Meterholz lag vor ihm auf dem Bock. Er klappte den Gehörschutz fest und flach auf die Ohrmuscheln. Die Säge lag gut in der Hand, kaum Vibrationen, aber er ahnte die Kraft. Das Schwert senkte sich langsam ab, glitt durch die Rinde und folgte der Schwerkraft, arbeitete sich mühelos durch den Stamm. Er hielt inne, spürte, wie seine Muskeln warm, der Nacken schweißfeucht wurde. Das Sägen von Brennholz barg keine Geheimnisse: es war, was es war. Die Scheite fielen auf die Grasnarbe, immer gleich große Teile, danach das nächste Meterholz.
Er hielt den Blick stets auf das schmale, scharfe Blatt der Säge gerichtet, das trockene Knurren des Motors unter dem Gehörschutz dumpf und wie aus weiter Entfernung. Er arbeitete konzentriert und vorsichtig, Scheit für Scheit, machte nur Pausen, um das Holz in dem kleinen Verhau neben dem Blumenbeet zu stapeln. Als er den vorletzten Meter Holz auf den Bock legte, nahm er aus den Augenwinkeln eine Gestalt vor dem Gartentor wahr. Er senkte die Säge ab und legte die Bremse ein. Der Postbote war schon durch. Er klappte den Gehörschutz hoch und wartete ab, bis die Person hinter dem großen Haselnussbaum auftauchte.

Ach, der Hajo …Mensch, machstn du hier, sag mal?
War in der Gegend und wollt einfach mal vorbeischauen.
Winfried schaltete die Säge ganz ab, stellte sie auf die Erde neben dem Bock und zog sich den Sicherheitshelm vom Kopf.
Haste dir ne neue Kettensäge zugelegt?
Ja, wollt mal wieder n bisschen Holz machen.
Der Winnie … fleißig, fleißig.
Und du? Was hat dich denn in die Pampa verschlagen? Er sah ihn an. Willste n Bier?
Nee, bißchen früh, wa?
Winfried zuckte mit der Schulter. Na ja. Kannst ja nicht immer nur Kaffee saufen.
Ist auch wieder wahr.
Ich hab Helles da, hat mir mein Schwager aus Bayern mitgebracht. Kellerkalt.
Lass mal, ich muss noch fahren.
Winfried nickte. Na, wenn das so ist.
Die Große von STIHL, oder?
Na ja, groß … ein bisschen mehr PS hat die. Gönnt sich ja sonst nichts.
Na sicher, sagte Hajo und lächelte.
Also … bist aber doch nich nur wegen bißchen plaudern gekommen, oder?
Nee …
Winfried räusperte sich. Willst mich nachher noch zurückholen?
Du weißt, wie es is, würd ich gerne, aber …
Schon gut. Er schüttelte den Kopf. Brauchen wir jetzt ja nicht drüber reden. Schnee von gestern. Hab auch schon alles weggegeben; Büchsen und Flinten, das ging alles an den Ulf, die Kurzwaffen auf eGun.
Aber den LADA hast du noch?
Du meinst den Niva?
Ja, genau, genau den … hier, Allrad, in Petrol.
Hab ich noch, ja.
Das ist n super Wagen, sagte Hajo Peters.
Isser.
Fährste damit hier innen Forst? Wegen Holz machen?
Ach wat, sagte Winfried. Ich hatt einfach noch n paar Raummeter rumliegen, die sind jetzt erst richtig trocken. Der Bernd hatte mir das damals aber nur gespalten, ich wollt die jetzt auf Scheit sägen.
Der Bernd Hollerbach vom Driesch?
Der auch die Motorsägenkurse gibt.
Kenn ich.
Brauch doch nix mehr an Holz, ich sitz hier draußen an der Feuerschale und trink mir n Bier und rauch n paar Zigaretten … das war’s.
Mitm Rauchen hab ich ja aufgehört.
Ach ja?
Mit so nem Medikament, das war hart am Anfang, aber dann, so nach zwei Monaten, da hats dann gewirkt, ich hatt echt kein Verlangen mehr, keine Schmacht – und ich hab echt gerne geraucht, gerne und viel.
Früher nie ohne, heute nie mit.
Sie lachten.
Seitdem gehts mir aber bedeutend besser, sagte Hajo Peters. Geh auch noch n bisschen joggen jetzt.
Joggen?
Ja, kleine Rentnerrunde um den Allner See, zwei, dreimal die Woche. Bisschen fit halten.
Verstehe.
Und du?
Ich? Ich rauch immer noch ne Schachtel pro Tag.
Änderst dich nicht mehr.
Nem alten Hund bringste keine neuen Tricks bei.
Hajo zeigte auf die STIHL. Stör ich dich, wo du grad deine neue Säge einweihen wolltest.
Ach, spielt keine Rolle. Hab doch Zeit ohne Ende.
Ja?
Kann mich nur nirgendwo mehr blicken lassen …
Komm, so schlimm kanns nu auch wieder nicht sein.
Nee? Winfried Schell hob die Augenbraue. Die haben mir vor nem Monat die Fensterscheibe eingeworfen – direkt hier, unten in der Küche das große Fenster … riesen Trumm, ist aufm Tisch gelandet. Zum Glück saß da keiner.
Ach du Scheiße! Das kann ich doch nicht wissen! Hamse die Schweine denn drangekriegt?
Drangekriegt! Natürlich nicht. Wie denn auch?
Haste denn die Polizei gerufen?
Klar, klar hab ich die gerufen … aber was wollen die da groß machen? Da sagt der zu mir: Ja, also, sie könnten ja schließlich nicht jeden Tag hier Streife fahren, denn man müsste die ja wenn auf frischer Tat ertappen, und außerdem wär ich doch versichert. Dann bau ich meine Wildkameras auf, sag ich, ich hab ja Dutzende, da nehm ich die mit auf, wenn die nochmal kommen … aber da sagt der, selbst wenn die dann da drauf sind, selbst wenn ich die erwisch, also inflagranti, dann könnte man das nachher vor Gericht nicht verwenden … da fällt einem doch nix mehr zu ein, oder?
Ich versteh das ja immer nicht, ich mein – das Ganze, das ändert doch jetzt auch nichts mehr, oder?
Winfried Schell schloss für einen kurzen Moment die Augen. Dann sagte er: Nein, nein, das ändert jetzt auch nichts mehr.
So eine Scheiße.
Kannste laut sagen.
Und Fenster haste ersetzt?
Sofort, denkste ich will hier wie die Hottentotten hausen? Aber auch nur Ärger mit der Versicherung, das sind alles Verbrecher sag ich dir, Politiker, Anwälte und Versicherungen, in der Reihenfolge.
Muss ja alles seine Richtigkeit haben, weißte doch.
Richtigkeit, Richtigkeit … da wollten die Kostenvoranschlag hier, und noch das Formular von der Polizei, und dann das noch und das auch noch, da hatt ich die Faxen nachher aber dicke. Na ja, jetzt isses erledigt.
Besser is.
Also, wenn kein Bier, kann ich dir denn was anderes anbieten – Kaffee, Limo?
Nee, alles gut.
Na dann …
Sag mal. wo isnen eigentlich die Monika?
Schwester, die is bei ihrer Schwester … die haben doch jetzt ein Welpen, seit kurzem erst, kleinen Münsterländer, genau wie unser Harras damals, deswegen ist die öfters da.
Ach so, ja dann … wie gehts ihr denn? Gehts ihr gut soweit?
Ja, ja. Kennst doch die Monika, die bringt nix aus der Fassung, die behält immer die Ruhe.
Und du?
Was ich?
Ja nen Hund. Ich meine, wo du jetzt so viel Zeit hast, wär das nix?
Nee, das is vorbei, will ich nicht mehr. Was soll ich auch mitm Hund? Kann ich ja nirgends hin … und immer nur so durch den Wald traben, nee, das ist was für Rentner.
Wasn das fürn Helles, was dein Schwager dir mitgebracht hat?
Aus Rosenheim. Willste jetzt doch eins.
Eins!
Eins ist keins, weißte doch.
Nee, wirklich nur eins.
Moment, ich geh grad holen.

Winfried Schell ging über den Rasen auf den gemauerten Bereich der Veranda, über die Treppe weiter in den Keller, wo es kühl und dunkel war.
Er drehte am Lichtschalter, ging an den Regalen vorbei, in denen noch Trophäen lagen, die seit Monaten darauf warteten, abgeschlagen und gebleicht zu werden. Die Getränkekisten lagerten unter dem kleinen Fenster. Er holte zwei Flaschen Bier aus dem Kasten, stellte sie in einen Eimer und ließ am Nebenhahn der Waschmaschine kaltes Wasser hinein. Hajo trank selten nur ein Bier, das wusste er. Dann nahm er noch zwei weitere Flaschen heraus, prüfte mit seinem Handrücken, ob sie kühl genug waren. Vorsorglich ließ er das Licht eingeschaltet. Auf der Treppe drehte er sich noch einmal um, übersah die Werkbank, auf der die große Geweihsäge sowie mehrere Behälter mit Wasserstoffperoxid standen. Er bekam sich wieder in die Hand und stieg die Treppe hinauf.

Hajo stand jetzt neben dem Sägebock, den Oberkörper über die Kettensäge gebeugt.
Wo haste die her, sagste?
Vom Endress, in Spich, Industriegebiet.
Ja, sagte Hajo. Da hab ich meine auch her, guter Laden, kriegste als Jäger glaub ich auch paar Prozente noch.
Winfried nickte. Meine alte Husqvarna, die war eigentlich noch in Ordnung, aber ich dacht mir, was Neues kann auch nicht schaden.
Ach, Flötzinger … Hajo zeigte auf die Bierflaschen in Winfrieds Hand. Kenn ich, Oberbayern, war ich früher öfters wandern, in den Alpen, ist super da, tolle Landschaft.
Schwager ist ja regelmäßig vor Ort, wegen der Arbeit, der ist in nem Logistikunternehmen tätig, ab und zu bringt der mir mal n Kasten mit. Kann man schon trinken.
Schaumermal, wie der Kaiser sagen würde.
Sie lachten.
Winfried öffnete die Flaschen mit der Feuerzeugkante. Die Kronkorken fielen in das kurz geschnittene Gras.
Lass einfach liegen, sagte er und reichte die Flasche weiter.
Sie stießen an und tranken.
Ja, geht gut, isn Zechbier.
Winfried hielt die Flasche gegen das Licht. Das Helle geht so oder so gut runter …
Und, sag mal, Hajo nahm einen kleinen Schluck und stellte die Flasche auf die Mauer, wie biste denn deinen Kram losgeworden, der Ulf macht doch an sich gute Preise, oder?
Ach, Preise … war ja nicht mehr viel, der Sauer Drilling, ne Bockbüchsflinte und die Mauser in .308, aber sagen wir so, war schon in Ordnung. Winfried zuckte mit der Schulter. Ging ja nicht ums Geld, das ich da noch möglichst viel Reibach mache, weißte? Ich wollt die einfach loswerden, war schwierig nachher, der Schrank stand ja im Arbeitszimmer, und da bin ich ja immer dran vorbei, gehste in die Küche, runter in den Keller, aufs Klo … immer kommste da dran vorbei und immer …
Verstehe … einfach ne Scheißsache.
Tja, machste nix, und dann war ich wirklich froh, dass alles weg war.
Fehlt’s dir denn?
Was meinste?
Na ja, also …
Das Jagen?
Hajo nickte.
Ich sags, wie es is: klar. Fehlt mir, Hajo, jeden Tag, jeden Tag denk ich drüber nach, ins Revier zu fahren, oder wie’s wär, jetzt ins Revier zu fahren, aber nee …
Klar, sagte Hajo, klar.
Dann tranken sie wieder aus ihren Flaschen.
Die Jule ist jetzt mit dabei, wo du’s gerade sagst. Im Revier, weißte?
Hatse ihren Schein doch noch gemacht?
War auch erstaunt, aber …
Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.
Tja, könnte man so sagen.
Dann seid ihr jetzt ja wieder vollzählig, ist doch alles gut. Musst halt nur gucken, wie du das mit den Ansitzen machst, wenn du da mal einen versetzen willst … die Jule ist doch so zierlich. Aber fragste einfach den Ott, hier aus Puderbach 1, der hilft ja immer gerne.
Winnie, sagte Hajo. Das kann man ja nicht vergleichen, weißt du doch auch. Erstens ist die Jule meine Tochter, und zweitens … die hat ja noch gar keine Erfahrung, und du hattest fünfzig Jagdjahre.
Die hab ich immer noch, Hajo. Das ist nichts, was einfach so verschwindet, ganz egal, was passiert ist, das bleibt.
Klar, klar. Hast natürlich Recht. Ich mein ja nur, das …
Das was?
Nee, nix. Schon gut.
Sie tranken wieder aus ihren Flaschen, kleine Schlucke, den Blick auf die gegenüberliegende Mauer gerichtet.
Hajo, sagte Winfried dann und legte seine freie Hand auf das Meterholz, das noch in einem Stück auf dem Bock lag.
Was?
Winfried senkte die Flasche. Kommst doch nich den ganzen Weg hier raus wegen nix?
Ach ja … Hajo atmete aus, sein Oberkörper sank dabei leicht zusammen, dann richtete er sich wieder auf und strich sich mit dem Handrücken über die Stirn. Na ja, also ich dacht, wegen dem LADA, weißte?
Winfried nickte. Er nahm einen Schluck Bier, räusperte sich und antwortete: Für die Jule, nehm ich mal an?
Wär doch ne gute Lösung, ich mein … bevor der nachher nur rumsteht, Rost ansetzt, oder?
Jaja, schon nicht verkehrt gedacht, sagte Winfried. Er leckte sich über die Oberlippe.
Eben fürs Revier, wo die Jule jetzt demnächst dabei ist, da kam dann halt die Frage auf – wie hin, wie zurück, und wenn schon nen eigenen Wagen, ob neu oder nicht, und da musst ich an dich denken …
Ja, klar, aber ich weiß nicht, Hajo. Weißt doch, was ich meine?
Versteh schon … hängt ganz schön was dran, an dem LADA. Er trank den letzten Schluck Bier, hielt die leere Flasche zwischen den Fingern am Hals.
Ne ganze Menge hängt da dran … also.
Verstehe ich natürlich. Aber kannst ja trotzdem mal drüber nachdenken, oder? Ich mein, nachdenken kostet ja nix.
Ich denk drüber nach, ja? Sag dir Bescheid, lass mir n bißchen Zeit. Winfried zeigte auf die leere Flasche. Willst noch eins?
Nee, danke, echt, aber das Eine reicht, wirklich, is nett von dir aber … muss noch fahren! Nachher stehen die irgendwo und ziehen mich raus, und dann … geht so schnell heute, is der Lappen weg, und das kann ich nicht gebrauchen.
Klar, klar.
Winfried trank seine Flasche leer. Na ja, also biste nur deswegen hier raus gekommen, wegen dem LADA?
Nich nur wegen dem LADA …
Winfried lächelte mit zusammengekniffenen Lippen. Nee, nicht nur, aber eigentlich schon, oder? Oder nicht?
Na ja, so isses ja auch nich.
Mein Vater sagte immer, versuch nichts zu kaufen, was nicht zum Verkauf steht. Winfried lachte trocken. War so einer seiner Regeln.
Regeln, wiederholte Hajo Peters und schüttelte den Kopf. Ich weiß ja nich … ist so ne Sache mit den Regeln.
Winfried stellte die leere Flasche auf die Mauer und bedeutete Hajo mit einer Handbewegung, ihm seine ebenfalls zu reichen. Bring ich gleich runter innen Keller, stehen die hier nicht so rum. Komm, ich bring dich noch zum Tor.
Hajo nickte. Aber denk mal drüber nach, ja?
Winfried nahm die Flaschen in eine Hand. Ja, Hajo. Wie gesagt …
Und lass dich doch wenigstens mal wieder beim Stammtisch blicken, ist immer noch im Alpenhäuschen, jeden ersten Dienstag im Monat, alles wie gehabt.
Und was soll ich da? Rumsitzen und mir einen lümmeln?
Mensch, Winfried, komm.
Ich guck, Hajo, ich guck.
Mach das, und danke fürs Bier.

Winfried Schell schloss die Fahrertür und lehnte sich im Sitz zurück, das kalte Plastik der Nackenstütze ließ ihn kurz erschaudern. Er hatte den Wagen schon seit Monaten nicht mehr benutzt, es sogar vermieden, ihn anzusehen. Deswegen stand der LADA ganz hinten im Carport. Durch die Windschutzscheibe konnte er auf das brachliegende Feld gegenüber der Straße blicken. Vor ein paar Tagen hatte er dort zwei junge Füchse beim Spielen beobachtet. Er zündete sich eine Zigarette an und nahm einen ersten Zug. Im Fond vor dem Beifahrersitz lag noch der ausgeleierte Gehörschutz vom DJV. Er beugte sich über die Mittelkonsole, hob ihn vom Boden auf und klemmte ihn sich über den Oberschenkel.
Der Junge war siebzehn Jahre alt gewesen und hatte die vorschriftsmäßige neonfarbene Warnweste getragen. Der Mais stand über zwei Meter hoch. Winfried hatte die Bewegung gesehen, die Geräusche gehört. Damals war er sicher gewesen. Doch wenn er jetzt versuchte, sich an diesen Tag, an den Moment zu erinnern, war da nichts, nur ausgegraute Zeit, eine Nicht-Erinnerung. Es war, als hätte nicht er selbst abgedrückt, sondern jemand anderes. Jemand, den er nicht kannte und auch nicht kennen wollte.

Er legte seine Hände auf das Lenkrad, umfasste den Kranz, der sich fremd anfühlte, ungewohnt hart und neu, als sei er kaum benutzt worden. Dann kurbelte er die Seitenscheibe herunter, zog an der Zigarette und sah dem entweichenden Rauch hinterher. An diesem Tag, an den er sich nicht mehr erinnern konnte oder wollte, hatte er sich in den LADA gesetzt und war darin nach Hause gefahren. Polizisten fanden ihn in der Küche sitzend, den geladenen Revolver vor sich auf dem Tisch. Die Waffe gegen sich selbst zu richten, hatte er nicht fertiggebracht. Etwas hatte ihn zurückgehalten, die Möglichkeit der Sühne oder die Hoffnung auf Gnade … er konnte es nicht benennen. Er zog ein letztes Mal an der Zigarette und atmete den Rauch langsam aus. In dem LADA war es jetzt genauso still wie damals auf dem Maisfeld, nachdem der Schuss gebrochen war. Kein Wind, kein Rascheln, kein Lachen.

Vereinzelung (für Ludwig Fels)

Da liegt man dann alleine
starrt an die Decke
aus den Fenstern
in den Graupelregen oder auch
in den schönsten Sonnenschein
im Grunde spielt es keine Rolle
macht keinen Unterschied,
etwas treibt uns an, das stimmt;
es ist der blinde Wille des Lebens,
den wir nicht abstellen können,
der einfach in uns ist.
Fortwährend streckt man seine Hände aus,
man begreift sich ja stets im Fallen
will sich festhalten oder festgehalten werden
einerlei, denn wir bleiben nun mal über Erden
bis sie uns wegtun
aber wir fallen nicht, wir liegen schon
dabei hat man gewartet und gewartet und
schlussendlich gedacht:
ist doch alles Lüge, alles Theater, alles Rotz
der Geistliche nennt dich trotzdem Bruder,
und mit dem letzten Wort: auf ewig unvergessen

Man ist ohne Weg (für Ludwig Homann)

Das hier; im weiteren Sinne Leben
die ganze Kümmerexistiererei
das Abgeplage und Rumgestehe
das Aufpolieren der Biografie
das Verbreiten von Nichtigkeiten
das vom Mundabsparen und der Verzicht
die unterdrückten Triebe
wir merken nichts
wir sitzen mit dem Rücken zur Tanzfläche
und grollen in unser Bier
wir lehnen uns zurück in der Hoffnung
das wir fallen und uns dabei endlich das Genick brechen

Rotter See

Und ja, gab auch einen Artikel im General-Anzeiger, allerdings nur im Regionalteil Rhein-Sieg. Mit großem Photo, deswegen haben Sie mich wahrscheinlich erkannt. Nein, schon gut, ist mir ja schon öfters passiert, dass mich Leute auf der Straße ansprechen.

Da gibts eigentlich nicht besonders viel zu erzählen. Bin ja mein Leben lang beim DLRG gewesen und dann dreißig Jahre Bademeister im Oktopus, ich guck da wahrscheinlich einfach anders hin, das passiert ganz automatisch, denk ich. Ja, das ist richtig, ich war mit meinen Enkelkindern am Rotter See unterwegs, wir gehen da regelmäßig spazieren, meine Tochter hat einen Labrador, die Milly, und die mag’s natürlich auch am Wasser ganz gerne. Ist in der letzten Zeit wieder viel passiert, am Rotter See, und auch in der Vergangenheit. Steht groß in den Zeitungen, dass da wieder jemand ertrunken ist, passieren tut aber nie was, da hat sich eigentlich nichts dran geändert in all der Zeit. Und jetzt, also dieses Jahr, da waren es zu Beginn des Sommers drei Jugendliche, junge Männer eher … und ja, natürlich hat das mit Alkohol zu tun, ist schon genau so wie Sie sagen, aber die meisten wissen das gar nicht richtig einzuschätzen, die Hitze, das Wasser, das ist so ein Zusammenspiel, da geht das dann ganz schnell, das kriegt man selbst überhaupt nicht mit.

Wenn jemand ertrinkt, das Ertrinken, das ist anders, als man sich das vielleicht so vorstellt. Ja, leise, ganz leise, ganz leise ist das, da schreit keiner und keiner rudert wild mit den Armen herum, das ist wirklich … ganz leise, ganz still geht das. Und man muss da ein Auge für haben, man muss das sehen können, denn da winkt ja auch keiner oder ruft laut um Hilfe, weil dafür die Kraft einfach fehlt. Mir ist das wegen der Luftmatratze aufgefallen, da hab ich das erste Mal gedacht: Moment!, da stimmt was nicht. Nun, ich sah die Luftmatratze auf dem Wasser, aber sonst war keiner da, und dann hab ich einfach noch mal bisschen genauer hingeschaut.

Ja, das ist richtig, der war mit zwei Freunden da. Die waren aber schon längst wieder am Ufer, als das passiert ist und dachten wahrscheinlich, der wäre noch was alleine auf dem Wasser unterwegs … ich kann dazu nichts sagen, im Nachhinein hat sich dann wohl herausgestellt, dass es allgemein bekannt war, dass der Junge kein guter Schwimmer ist, aber ich will den anderen beiden jetzt natürlich auch nichts unterstellen. Ich habe den Kopf gesehen, wie der immer wieder kurz aus dem Wasser aufgetaucht ist, das waren ja schon etliche Meter von der Luftmatratze entfernt, und ab da wusste ich einfach, der ist akut in Not. Und dann hab ich mir halt die Schuhe und das Hemd ausgezogen und bin rein … ich musste tauchen und hatte auch noch Glück dabei, weil der See an der Stelle nicht ganz so trübe ist, ich habe den gleich gefunden, zwei, drei Meter unter der Oberfläche, und der Rest … naja, ich sehe mich jetzt nicht so, Held, überhaupt nicht. Das hat die Presse zwar geschrieben, aber mir persönlich war das eher unangenehm. Ich hab gemacht, was jeder andere auch gemacht hätte, mehr nicht.

Das mit dem Rummel danach, das hat mir gar nicht gepasst, um ehrlich zu sein, denn ich denk, ohne dieses ganze Trara wäre das andere auch nicht passiert. Ich rede da nicht gerne drüber. Nein, ich kannte den Mann vorher nicht, ich denke mal, der hat auch das Photo im General-Anzeiger gesehen, den Artikel gelesen … nein, nein, das war nichts Offizielles, der hat einfach bei mir privat angerufen, ich nehme mal an, der hat meine Nummer über das Oktopus herausbekommen oder vielleicht auch im Internet gesucht, die wird da ja sicher irgendwo stehen, aber ehrlich gesagt weiß ich es nicht genau. Ich habe ihn auch nie danach gefragt, seltsam eigentlich, oder? Er machte am Telefon jedenfalls gleich so einen vertrauenswürdigen Eindruck, da habe ich jetzt gar nicht drüber nachgedacht, ob der was Krummes vor hat oder so. Obwohl man weiß es ja nicht, man weiß es ja nie, wen das alles so anzieht. Da liest halt einer diesen Artikel im General-Anzeiger, und dann … will er dich nur was hochnehmen, dich, auf gut deutsch gesagt, ein bisschen verarschen. Das konnte ich ja nicht wissen. Na ja, jedenfalls hat der mich gleich am Telefon gefragt, ob ich ihm das Schwimmen beibringen würde. Wenn er Schwimmen lernen will, dann soll er doch bitteschön in ein Schwimmbad gehen und dort das Personal fragen, die würden sich um ihn kümmern, die würden das schon machen.

Das wollte er aber nicht. Genau das wollte er nicht. Nein, ich weiß schon, dass die das da machen, hat er gesagt, aber er wollte das eben von einem lernen, der weiß, was er tut. Der sich bewährt hat, so in etwa. Ich wusste ja, was die in dem Artikel geschrieben hatten und das klang natürlich alles ziemlich übertrieben, als sei das eine große Sache gewesen, ist natürlich Blödsinn. Ich kann jedoch verstehen, wie jemand auf diese Gedanken kommt, wenn man das so liest. Der denkt dann vielleicht, da muss wirklich was dran sein, der liest da was von Held und wie gefährlich das war und hier, Leben gerettet, und dann … ich weiß nicht, natürlich war ich auch irgendwie stolz, das muss ich schon sagen, das hat mir auch geschmeichelt, die Aufmerksamkeit, aber das wäre doch bei Ihnen auch nicht anders gewesen.

Na ja, aber ich hatte das schon richtig verstanden, das war nicht nur dahergeredet: der wollte wirklich Schwimmen lernen. Zuerst war ich hin und hergerissen, auf der einen Seite hab ich gedacht, du hast ja immer noch eine Verantwortung, und er ist extra zu dir deswegen … auf der anderen Seite aber war das ja schließlich ein Wildfremder, und ich meine, man lässt doch nicht einfach so jeden an sich ran. Meine Frau meinte, mach es einfach. Du tust was Gutes, nutz das, nutz die Aufmerksamkeit, die du bekommen hast und tu was Gutes damit. Guck ihn dir erstmal an, das kostet nix und dann, wenn es nichts ist, kannst du immer noch sagen, du hättest keine Zeit oder wärst aus anderen Gründen verhindert.

Ein paar Tage später habe ich zurückgerufen, um mit ihm zu vereinbaren, dass man sich ja erstmal unverbindlich treffen kann. Wir haben uns dann an der Sieglinde getroffen. Er war sicherlich Mitte Fünfzig … ich sag mal, in seinen besten Jahren. Ich habe ihn sofort erkannt. Wir haben uns an eine der Bierbänke draußen gesetzt, und was sollte ich da jetzt noch groß sagen? Wissen Sie, Schwimmen, Schwimmen ist ja etwas Natürliches, etwas … na ja, etwas, das man können sollte. In den letzten Jahren, kurz vor der Rente, da hatte ich viel mit Flüchtlingen zu tun, da konnten auch viele nicht oder nicht richtig schwimmen, die haben das dann bei uns gelernt. Da waren auch viele im fortgeschrittenen Alter, also kannte ich das, ja? Wenn man das später im Leben noch lernt. Ich meine, da gibt es ja viele Gründe, warum man das nicht schon früher gelernt hat, ich habe ihn auch nicht sofort danach gefragt, weil mir das für ein erstes Treffen unpassend erschien. Oft sind es ja persönliche Umstände, über die man nicht so gerne redet. Und heute können auch schon jede Menge Kinder nicht schwimmen. Fatal ist das, meiner Meinung nach. Das Schwimmen sollte man einfach beherrschen. Deswegen konnte ich den Mann schlecht wegschicken. Und er sagte das ja auch zu mir, dass das Schwimmen ihm wichtig ist, das klang absolut vertrauensvoll in meinen Ohren. Nun, also … da saßen wir schon zusammen, hatten uns jetzt persönlich kennengelernt … aber eins musste ich trotzdem wissen: Warum denn ausgerechnet jetzt?

Sein kleiner Enkel hätte ihn im letzten Sommer ständig gefragt, warum der Opa eigentlich nie mit ins Wasser kommt? Und wie er das so erzählt hat, da ist mir das Herz aufgegangen, das muss ich schon sagen. Weil ich das ja selbst auch kenne; ich gehe mit meinen beiden Enkeln auch regelmäßig schwimmen, und die haben das auch von mir gelernt, gleich von der Pieke auf, einer schwimmt mittlerweile sogar im Verein, das wird mal ein super Rückenschwimmer. Kann ich mir gar nicht vorstellen, darauf zu verzichten, nur weil ich selbst nicht schwimmen kann. Es ist ja vor allem so, man sieht ja, wie schnell die groß werden, und nachher ärgert man sich wegen der Zeit, die man verpasst hat – das ist doch das Allerwichtigste, die gemeinsame Zeit, denn die kommt nur einmal, wat fott is is fott, wie man so schön sagt, die Zeit kriegt man nicht mehr wieder, die kriegt man nie wieder. Das war also etwas, das ich absolut nachvollziehen konnte. Jeder würde das doch wollen, mit seinen Enkeln schwimmen können.

Also das Erste, was man übt, ist das Treiben lassen, sich einfach im Wasser treiben lassen. Ich hab festgestellt in all den Jahren – ich spreche immer nur aus eigener Erfahrung -, dass die Leute, je älter sie werden, dass sie dann immer mehr Angst vor dem Wasser bekommen. Kinder haben diese Angst noch nicht, da ist das noch nicht so ausgeprägt, denen ist das Wasser vertrauter. Ich denke einfach, ab einem gewissen Alter muss man sich erstmal dran gewöhnen, das ist Kopfsache. Man weiß ja, was theoretisch alles passieren kann, und die Motorik lässt auch langsam nach, das ist die andere Sache.

Wir haben uns dann im Oktopus getroffen, ich hatte die ganze Sache mit ein paar der alten Kollegen abgesprochen. Zuerst im kleinen Becken, wo es ganz flach ist, danach weiter rein bis zur Hüfte, da sollte er sich langsam aufs Wasser legen, sich dabei ganz leicht machen, Toter Mann spielen. Die ersten Male ist er ja runter wie ein Stein, weil er total verkrampfte. Ich kenne das natürlich. Ich weiß, dass das oft so ist am Anfang, wenn man das noch nicht gewöhnt ist, aber das hat sich mit der Zeit gelegt, da fiel ihm das immer leichter. Später, als das dann richtig gut klappte, haben wir am Beckenrand weitergemacht. Er hat sich festgehalten und mit den Beinen gepaddelt, einfach um den Bewegungsablauf reinzubekommen, das Gefühl, sich im Wasser zu bewegen, langsam und gleichmäßig, die Bauchmuskeln dabei anspannen. Es hat etwas gedauert, das war schon so. Dann haben wir erstmal richtig atmen geübt, das habe ich ihm gezeigt – die Luft überm Wasserspiegel auspusten, und ruhig richtig blubbern lassen. Er wollte alles gleich ohne Brille machen, aber nix hab ich gesagt, die Brille muss an, sonst werden die Bewegungen unkoordiniert, und wenn man einmal die Kontrolle verloren hat, bricht man schnell in Panik aus, und das kann keiner wollen, oder? Nein. Das bringt doch nichts, da jetzt eine Abkürzung nehmen, zu was soll das gut sein? Da musste ich dann auch kurz mal laut werden, um ihn wieder zu bändigen.

Ja, natürlich haben wir uns besser kennengelernt, das lässt sich ja kaum vermeiden. Wir haben schließlich mehrmals die Woche immer volle fünfundvierzig Minuten trainiert. Das muss schon sein, diese Regelmäßigkeit. Danach sind wir oben ins Restaurant und haben dann in aller Ruhe eine Tasse Kaffee getrunken. Darauf hat er bestanden, die hat auch immer er bezahlt! Er war an sich ein zurückhaltender Typ. Man hat schon auch gemerkt, wie unangenehm ihm das Ganze war, dass er erst jetzt, sozusagen als Erwachsener, das Schwimmen beigebracht bekommt, also dass ihm das einer beibringen muss. Das hat er mir irgendwann mal gesagt, aber auch dass ich es ihm leicht gemacht hätte. Er wäre sich nicht so hilflos vorgekommen, wie er das anfangs dachte. Ich hab gesagt, dass es nie zu spät dafür ist, lohnt sich einfach immer, Schwimmen lernen. Er arbeitete beim Amt für Grünflächen der Stadt Bonn, ich weiß aber jetzt nicht, was er da genau gemacht hat. Schien auf jeden Fall gut zu verdienen, kam immer in einem silbernen BMW, sportlich … Wir haben ansonsten nicht viel über Privates gesprochen, er erzählte mal etwas von seinen Söhnen, zu einem war da wohl der Kontakt abgebrochen, der lebte schon seit längerem in Italien … das fragt man ja nicht, was da genau vorgefallen ist, so etwas macht man einfach nicht, und es geht mich im Prinzip ja auch gar nichts an. Ich wollte ihm schließlich das Schwimmen beibringen und sonst nichts.

Sagen wir so, ich war zu diesem Zeitpunkt schon ein paar Jahre zu Hause … ich hab mich noch fit gefühlt, ich fühl mich immer noch fit, und ich hätt auch gerne noch im Oktopus weitergemacht, aber das ging halt nicht mehr; da konnte ich nichts mehr dran machen. Und es ist so, das merkt man dann, wenn man zu Hause ist, da sitzt man erstmal nur rum und guckt der Frau über die Schulter. Die war ja schon richtig genervt von mir, wie ich da durchs Haus getigert bin, und nichts zu tun! Da wird man richtig unzufrieden. Das ist schon eine Umstellung. Früher war ja immer was los – im Oktopus hab ich alles gemacht, nach den Becken geguckt, Kollegen eingewiesen, Schwimmgruppen geleitet, Seepferdchen abgenommen und auch bisschen was bei den Leistungsschwimmern mitgeguckt, weil ich früher ja auch mal Wettkämpfer war, da hat man einen anderen Blick drauf. Ich bin ja mit den Trainern per Du gewesen. Und dann … wenn man auf einmal zu Hause ist, rumsitzt und nichts machen kann, dann ist das schon hart. Ich war jetzt auch nie der Typ für irgendwelche Hobbies; mein Beruf war mein Hobby. Ich war ja von klein an schon im Wasser, man kannte mich gar nicht anders. Richtige Wasserratte, sagte mein Vater immer. Als ich dann aber nachher großer Fan vom Roland Mathes wurde, da war er nicht mehr so begeistert. Die kriegen doch alles Mögliche gespritzt da drüben, nur damit die auch ja schön den Klassenfeind besiegen! Na ja, was ich eigentlich sagen will: es hat mir natürlich auch Spaß gemacht.

Ich war zwar oft mit dem Hund von meiner Tochter draußen, jeden Tag im Grunde. Die wohnen ja gleich bei uns um die Ecke, und dann ab, durch die Siegauen, immer die große Runde, Lohmarer Wald, an den Teichen vorbei, runter bis zur Autobahnbrücke … aber wie ich schon gesagt habe, es fällt mir schwer, einfach nur so dazusitzen, tut es heute noch, und da war das schon auch gut, eine willkommene Abwechslung, wie man so schön sagt.

Nach einem Monat hat man erste Erfolge gesehen, da klappte das alles schon viel besser. Er hat sich auch wirklich rangehalten! Man sagt ja, als Erwachsener braucht man so um die dreißig Stunden, bis man halbwegs schwimmen kann, aber das ist ja immer nur eine grobe Schätzung, das muss man auch einfach individuell betrachten. Und ich denke, hier kamen noch ein paar Punkte dazu: er war mir fast schon zu fix bei der Sache, da musste ich ihn sogar manchmal bremsen. Ich kenne das gut, wenn man denkt, man sei schon weiter, als man eigentlich ist, das kenne ich noch gut aus der Zeit, als ich Leistungsschwimmer war … da habe ich auch oft gedacht, die gesetzte Zeit schaff ich locker, und dann kam es doch ganz anders. Da muss man sich halt den Mund abputzen und weitermachen, was bleibt einem anderes übrig? Und er war ja erst Frühschwimmer, deswegen habe ich ihm immer wieder gesagt, dass er es ruhig angehen lassen soll. Manche Dinge brauchen eben ihre Zeit.

Ja, danach hat er mir auch gefragt, klar. Ich habe ihm aber nichts anderes erzählt als den Pressefritzen, ich habe nichts ausgeschmückt oder dazu erfunden oder so, das war in meinen Augen ja auch wirklich nur eine kleine Sache, die dann vollkommen unnötig aufgeplustert worden ist. Aber ich habe eben schon gemerkt, einfach an der Art, wie er gefragt hat, dass ihm das imponiert hat, und er hat auch immer wieder betont, wie wichtig ihm das ist, dass er das Schwimmen von mir lernt, von einem, der schon mal ein Menschenleben gerettet hat, so hat er das gesagt. Doch dazu gehört natürlich schon noch etwas mehr. Ich hab schließlich auch die Ausbildung als Rettungsschwimmer in Gold, schon ewig her, dass ich die gemacht hab. Außerdem hab ich das ja auch angewendet, ich hatte in all den Jahren etliche brenzlige Situationen im Oktopus, das glaubt man kaum, was da alles im Freischwimmerbecken passieren kann, davon kann ich schließlich ein Lied singen.

Aber ich gebe gerne zu, er wurde schnell richtig gut. Hat sich richtig reingekniet, wurde ein guter Schwimmer, saubere Technik. Ich glaube, er wollte mich damit auch beeindrucken, deswegen … Meine alten Kollegen haben das natürlich bemerkt, wie er da reingehauen hat, die haben schon gescherzt, ob ich ihn für Olympia trainiere, ob ich ihn deswegen so an die Kandarre nehme. Ich wollte einfach, dass er gut ausgebildet wird, wie ich das bei jedem anderen Schwimmer eben auch gemacht hätte, ob groß oder klein, jung oder alt, ich mache da keine Unterschiede.

Ja, wir haben vielleicht schon länger gemacht, als es nötig gewesen wäre, einfach, weil ich mir sicher sein wollte. Das war ja schließlich meine Verantwortung, und als es dann soweit war, da ist es mir schwer gefallen, schwerer als ich dachte … wir haben dann noch ein letztes Mal Kaffee zusammen getrunken oben im Restaurant, von da kann man ja so schön auf die Becken im Innenbereich gucken, die Leistungsschwimmer haben gerade trainiert. Ich habe ihm noch gesagt, er soll ja schön vorsichtig sein, nicht in offene Gewässer sofort, aber da hat er nur gelacht und gesagt, dass er am Wochenende schon mit seinem Enkel in der Sieg schwimmen war, aber in einem ruhigen Abschnitt im Bröltal, und das ich mir keine Sorgen machen soll, das wäre das beste Gefühl gewesen, was er je hatte: mit seinem Enkel schwimmen zu gehen.

Ich habe dann längere Zeit nichts mehr von ihm gehört. Ich bin einfach wieder mit der Milly raus, hab meine Runden gedreht und meiner Frau beim Kochen über die Schulter geguckt, hätte mich zwar schon interessiert, aber so was macht man ja nicht, da jetzt extra nachfragen. Einer vom General-Anzeiger hat die Geschichte wohl spitz gekriegt und wollte noch einen weiteren Artikel schreiben, aber ich habe gesagt, nein, das würde ich nicht wollen, es wäre jetzt langsam mal genug damit.

Mir ist das erst später zugetragen worden, von einem meiner alten Kollegen, der hat bei mir angerufen, als es endgültig klar war. Ich hatte das schon in der Zeitung gelesen, aber nicht mit ihm in Verbindung gebracht … nein, das stimmt ja so nicht, es ist anders gewesen, ich hab eigentlich sofort an ihn gedacht, dass er das gut und gerne sein könnte, gleich als ich den Artikel gelesen habe … genau vor so Sachen, da hast du ihn immer gewarnt, da hast du immer wieder gesagt … hat natürlich alles gepasst. Die Strömung in so einem Gewässer, sich selbst überschätzt, dann weiß man nicht, wie man sich in schwierigen Situationen verhält, das kommt ja alles erst mit der Zeit, mit der Erfahrung, da hat er sicher gegen den Sog angekämpft, was ja das Verkehrteste ist, was man überhaupt machen kann, aber ja, diese Erfahrung hat er eben einfach nicht gehabt. Mir wäre jedenfalls im Traum nicht eingefallen, direkt im Rhein schwimmen zu gehen. Ich meine, der Rotter See, das ist eine Sache, aber der Rhein, da sind selbst gestandene Schwimmer gescheitert, die sie da grade noch vorm Ertrinken rausgezogen haben, die haben Glück gehabt, dass sie überlebt haben.

Natürlich, ich meine … ich hab mir jetzt keine Vorwürfe gemacht oder so. War ja schließlich ein erwachsener Mann. Manchmal laufen die Dinge eben so, wie sie laufen. Tragisch ist das gewesen, das kann man nicht anders sagen. Ich meine, er hatte ja schließlich Familie, Frau und Kinder, Enkelkinder … bin seitdem auch nicht mehr in einem Becken gewesen, eigentlich überhaupt nicht mehr im Wasser, ich weiß nicht. Die vom Oktopus haben mich vor Kurzen gefragt, ob ich nicht nochmal zurückkommen will, gibt ja wieder mehr Flüchtlinge jetzt. Die Zeit hätte ich, aber ich hab gesagt, nein, das ist vorbei, das ist endgültig vorbei. Ich geh meine Runden mit der Milly und das reicht mir, das reicht mir vollkommen, ich muss keinem mehr was beweisen, oder? Nein, das muss ich nicht mehr.